Verfuehrung in aller Unschuld
herkommst, nicht schön?“
Lucy sah graue Betonwände vor sich, Stahltüren, kahle Flure und hoffnungslose, vom Leben gezeichnete Menschen. Es kam ihr vor wie ein Traum, dass sie jetzt hier stand, mitten in dieser sonnenbeschienenen Landschaft.
„Doch, da ist es auch schön.“ Sie dachte an das Dorf in England, in dem sie aufgewachsen war. „Im Frühling blühen dort die Glockenblumen wie ein dichter blauer Teppich, die Haustür ist von Rosen umrankt, und an einem hohen alten Baum im Garten hängt die größte Schaukel, die du dir vorstellen kannst.“
Die Sommer ihrer Kindheit waren endlos lang gewesen, doch dieser würde bald zu Ende sein.
„Komm schon“, bettelte Chiara. „Domi hat gesagt, er spendiert uns ein Eis.“
Bereitwillig folgte Lucy ihr hinunter in den Ort, wo Domenico, der ein paar Einkäufe zu erledigen hatte, auf sie warten wollte. Die freudige Aufregung, die sie beim Gedanken an ihn überkam, war zugleich ein Warnsignal. Höchste Zeit, dass sie nach England zurückkehrte.
Doch diesen einen Nachmittag wollte sie noch unbeschwert genießen. Eine weitere kostbare Erinnerung sammeln für die harte Zeit danach.
Als sie an ein paar Läden vorbeikamen, Chiara fröhlich hüpfend an Lucys Hand, erklang eine schrille Stimme von der anderen Straßenseite: „Da, das ist sie!“
Lucy wirbelte herum und sah eine hagere Frau, die mit dem Finger auf sie zeigte.
„Ich hab sie gleich erkannt, als sie den Berg raufgegangen ist, aber du wolltest mir ja nicht glauben. Jetzt sieh her!“ Triumphierend wedelte die Frau mit einer offenen Zeitschrift vor der Nase ihres Begleiters herum und machte mit ihrem Gezeter auch andere Passanten auf sich aufmerksam.
Lucy erschrak, doch sie verstärkte den Griff um Chiaras Hand und setzte ihren Weg unbeirrt fort.
„Ich sag’s euch, die ist eine Mörderin. Was macht die da mit dem Kind? Jemand sollte die Polizei rufen“, schallte es hinter ihr her.
Ihr Magen zog sich zusammen, aber sie zwang sich, normal weiterzugehen, schon um Chiara nicht zu verunsichern. Und weil sie aus bitterer Erfahrung wusste, wie fatal es war, einem wild gewordenen Mob eine Angriffsfläche zu bieten.
Die Frau mit dem hassverzerrten Gesicht war ihnen dicht auf den Fersen, gefolgt von einer wachsenden Schar Neugieriger. Lucy war versucht, sie mit wüsten Beschimpfungen in die Flucht zu schlagen, hielt sich aber zurück.
Sie wollte nicht in die Rolle der Gejagten zurückfallen, die aus Verzweiflung blind um sich schlug. Also drückte sie Chiara nur tröstend die kleine Hand und marschierte tapfer weiter.
„Warum hält sie denn niemand auf?“, kreischte die Frau und hielt die Zeitschrift hoch. „Seht doch, sie ist eine Mörderin!“
Lucy erhaschte einen Blick auf die Seite mit ihrem Foto darauf und der fetten Schlagzeile: Wo ist Sandros Mörderin jetzt?
Ihr Puls raste. Der Albtraum nahm kein Ende. Als sie spürte, wie Chiara vor Angst zitterte, blieb sie abrupt stehen und stellte sich schützend vor sie.
„Hilfe!“, schrie die Frau, und die Menge scharte sich dichter um sie.
„Signora“, sagte Lucy, so höflich sie konnte, „es wäre besser für uns alle, wenn Sie Ihre Stimme etwas dämpfen würden. Sie erschrecken meine kleine Freundin.“
Die Frau starrte sie mit offenem Mund an, dann zischte sie: „Hört nur, sie will mir drohen!“
„Lucy?“, fragte Chiara ängstlich.
Lucy drehte sich zu ihr um, streichelte ihr beruhigend den Kopf und schenkte ihr ein, wie sie hoffte, aufmunterndes Lächeln, obwohl sie selbst vor Anspannung zitterte. Die Lage spitzte sich gefährlich zu.
„Schnappt sie euch, bevor sie dem Kind was antut!“, schrie ihre Verfolgerin.
Das Raunen hinter Lucys Rücken schwoll an. Sie drehte sich um und sah sich einem Meer feindseliger Mienen gegenüber.
„Wagen Sie es nicht, mich oder meine kleine Freundin anzurühren, sonst rufe ich die Polizei“, sagte sie in ruhigem, energischem Ton, was sie enorme Anstrengung kostete, die Leute aber erst einmal in Schach hielt.
Domenico erfasste die Situation mit einem Blick.
Lucy stand aufrecht vor der Menge, die Hände mit denen des hinter ihr stehenden Kindes verschränkt. Mutig wie eine Löwin, die ihr Junges gegen eine Übermacht von Jägern verteidigte.
Zorn durchfuhr ihn wie ein glühender Pfeil. Mühsam hielt Domenico an sich, um nicht jemandem einen Fausthieb zu verpassen, vorzugsweise der giftsprühenden Alten, die alle anderen aufhetzte.
Als er sich Lucy von hinten näherte, wirbelte sie herum und
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