Verfuehrung in bester Gesellschaft
Adresse?“ Sie wühlte mit ihren rundlichen Händen durch ihr Retikül. „Ich kann den Zettel nicht finden, auf dem ich sie notiert hatte.“
„Portman Square, Nummer sechs“, sagte Violet, die die Adresse auswendig kannte. Sie war ganz oben auf Rules goldverziertem persönlichem Briefkopf gedruckt, den sie auf jedem seiner wenigen Briefe der vergangenen drei Jahre gesehen hatte.
Mrs Cummins klopfte an das Dach der Kutsche. „Haben Sie das gehört, Kutscher?“
„Aye, Madam. Portman Nummer sechs. Das ist ein gutes Stück zu fahren, aber Sie werden heil und gesund dorthin kommen.“
„Ich hoffe, es dauert nicht zu lange“, sagte Caroline und seufzte müde. „Ich sehne mich danach, meine Schuhe auszuziehen und die Füße für eine Weile hochzulegen.“ Genau wie Violet war Caroline inzwischen neunzehn Jahre alt. Die beiden waren sich auch in anderer Hinsicht sehr ähnlich. Sie waren beide ein wenig zu direkt und auf unübliche Weise gewohnt, das zu tun, was sie wollten. Aber Violet gelang es besser, ihr wahres Wesen zu verbergen, als es Caroline vermochte, die sich nicht dafür interessierte, was die Leute über sie dachten.
Sie sah aus dem Fenster und prüfte den Stand der Sonne. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu und sie alle waren müde. Violet empfand ähnlich wie Caroline und konnte es kaum erwarten, ihr Ziel zu erreichen.
Ihre Gedanken kehrten zurück zu dem Mann, mit dem sie verheiratet war, und ein Anflug von Zorn stieg in ihr auf. Rule Dewar hatte die Frechheit besessen, sie zu heiraten und dann im Stich zu lassen. Er hatte ihrem Vater sein Wort gegeben, für sie zu sorgen, und obwohl sie genügend Geld besaß und so viele Dienstboten beschäftigte, dass sie damit halb Boston versorgen konnte, war das nicht das, was ihr Vater sich für sie gewünscht hatte.
Und ganz gewiss war es nicht das, was Violet wollte. Sie wollte einen Ehemann, der sie liebte, einen Gatten, auf den sie sich verlassen konnte. Sie wollte eine Familie und Kinder. Sie hatte sich einmal von Rule Dewar zum Narren halten lassen. Es würde ihr kein zweites Mal passieren.
Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie würde mit Rule abrechnen. Er würde bekommen, was ihr Vater ihm an Geld hinterlassen hatte, aber er würde seinen Anteil an Griffin Manufacturing verlieren.
Violet konnte es nicht erwarten, den Ausdruck auf seinem schönen Gesicht zu sehen, wenn sie ihm offenbarte, dass sie die Ehe annullieren lassen wollte.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Violet, Caroline und Mrs Cummins vor Rules Londoner Stadthaus eintrafen, einem schmalen, vierstöckigen Gebäude mit einem Giebeldach. Es stand mit einer Reihe gleich aussehender Häuser um einen kleinen Park mit bunten Frühlingsblumen, der von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Offensichtlich befand es sich in einer exklusiven Nachbarschaft, wie sie dem Bruder eines Dukes gebührte.
Der Gedanke irritierte sie ein wenig. Wie lächerlich es war, einen Mann wegen seiner vornehmen Herkunft zu heiraten. Rule Dewar hatte nicht einmal den Anstand besessen, sein Wort zu halten!
Ganz anders als Jeffrey, dachte sie und sah sein gut aussehendes Antlitz vor sich. Er hatte blondes Haar, warme braune Augen und ein freundliches Lächeln. Jeffrey Burnett war achtundzwanzig Jahre alt, neun Jahre älter als Violet, ein Mann mit Verantwortung und Anstand, den sie vor sechs Monaten bei einer Party kennengelernt hatte, die eine Freundin Tante Harriets gegeben hatte. Jeffrey war Rechtsanwalt und arbeitete viel für Schiffsreedereien. Da Griffin Waffen in die ganze Welt verschiffte, hatten sie einiges gemeinsam.
Sie waren so etwas wie Freunde geworden und irgendwann hatte Violet ihm von ihrer überstürzten Heirat und den Gründen dafür erzählt. Einige Wochen später hatte Jeffrey ihr erzählt, was er für sie empfand und dass er sie gern zur Frau nehmen würde.
Natürlich ging das im Moment nicht.
Zuerst musste sie ihre Ehe annullieren lassen. Erst dann wäre es möglich, den zweiten Anlass zu verwirklichen, der sie zu dieser Reise geführt hatte.
Sie wollte Griffin Manufacturing verkaufen.
Der Kutscher sprang vom Bock, öffnete die Wagentür und holte sie damit zurück in die Gegenwart.
„Wir sind da, meine Damen.“
Mrs Cummins warf dem Mann einen herablassenden Blick zu. „Sie müssen warten, Sir, während ich nachprüfe, ob dies die korrekte Adresse ist. Wenn das der Fall ist, werde ich Ihre Dienste wieder benötigen.“
„Jawohl, Madam.“
Mrs Cummins
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