Verfuehrung in Florenz
unbeschreibliche Lust geschenkt hatten. Die kräftigen Finger spielten lässig mit einem Messer. Ansonsten regte Raphael sich nicht, und sein Gesicht war wieder völlig verschlossen.
Schlagartig kehrte Eve aus ihrer Fantasiewelt in die Wirklichkeit zurück, als sie merkte, dass alle Blicke auf Raphael gerichtet waren. Donnernder Beifall setzte ein.
„Ein verdammt talentierter Kerl“, bemerkte Paul bewundernd und klatschte wie von Sinnen.
Raphael erhob sich und schritt zum Podium, hinter dem sein Siegerbild auf dem Schirm zu sehen war. Eve hielt den Atem an, so stark wirkte es auf sie.
Das Foto zeigte eine Frau mit einem lachenden Baby. Der Blick des Betrachters fiel zuerst auf das Gesicht des Kindes mit den klaren blauen Augen, langen Wimpern und rosigen Wangen – die verkörperte Unschuld. Erst dann wurde deutlich, was das Bild noch zeigte.
Die Mutter war selbst fast noch ein Kind, hager, mit eingefallenen Wangen und leblosen Augen. Die Arme, in denen sie das Baby hielt, bestanden nur aus Haut und Knochen. Nahezu schwärzliche Adern zeichneten sich deutlich unter der papierartigen Haut ab. Neben den beiden lagen auf dem schmutzigen Bett ein Teddybär – und eine benutzte Spritze.
Raphael erreichte das Podium, auf dem Luca darauf wartete, ihm den Preis zu überreichen. Der Jüngere streckte ihm die Hand hin. Raphael zögerte, und sein Gesicht wirkte finsterer und drohender als die Gewitterwolken, die am Nachmittag über Venedig gezogen waren. Es war ein schrecklicher Augenblick.
Raphael ignorierte Lucas Hand und wandte sich an das noch immer applaudierende Publikum. Stille trat ein, und er begann zu sprechen.
„Ich fühle mich geehrt, den Preis als Fotograf des Jahres zu erhalten. Selbstverständlich werde ich das Preisgeld wohltätigen Organisationen zukommen lassen. Dabei handelt es sich um die Heroinwaisen Kolumbiens und das Entziehungsheim und Rehabilitationszentrum, das wir vor zweieinhalb Jahren in Florenz gegründet haben.“
Beifall brandete auf, doch Raphael winkte sofort ab.
„Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es nicht der Fotograf ist, der diese Bilder so außergewöhnlich macht. Die Themen und Motive meiner Bilder machen ihre starke Wirkung aus. Und ich bin jenen dankbar, die mir diese Art von Bildern ermöglicht haben.“
Sein Blick traf Eve und ließ sie innerlich erbeben.
„Ich hoffe aber, dass irgendwann die Menschen in Kolumbien Grund haben werden, auch mir dankbar zu sein, weil ich der Welt ihre Lage zeige und versuche, sie zu verbessern.“
Er legte eine kurze Pause ein, in der man die Spannung im Saal fast mit Händen greifen konnte. „Die Arbeit geht weiter, bis die Gefahr durch Drogen und jene, die sie herstellen und daran verdienen, gebannt ist.“
Erst als sich alle erhoben und ihm stehend applaudierten, wandte Raphael sich an Luca und drückte ihm die Hand. Doch es sah mehr nach der Besiegelung eines feierlichen Schwurs aus als nach Dank oder Glückwunsch.
Alessandra Ferretti verlor keine Zeit und gratulierte Raphael, sobald er den Tisch wieder erreicht hatte. Sie umarmte ihn, küsste ihn hingebungsvoll auf beide Wangen und zog ihn rasch beiseite, bevor Eve ihren Platz überhaupt verlassen konnte.
„Ich habe einen öffentlichen Fototermin für die wichtigsten Zeitschriften organisiert, um zusätzlich eine Menge Geld für wohltätige Zwecke aufzutreiben“, erklärte Alessandra ihm, während sie ihn wegführte.
Raphael drehte sich noch einmal um und sah Eve kurz an, ehe er in der Menge verschwand.
„Er ist ein Genie, ein unglaubliches Genie“, stellte Paul seufzend fest, während er zusammen mit Eve die Fotos der Preisträger betrachtete.
Eve war ihm zu der Ausstellung auf der Galerie des Palazzos gefolgt. Pflichtschuldig bewunderte sie die beiden Bilder, die Paul für den Wettbewerb eingereicht hatte, bläulich schimmernde Fotos des von der Erderwärmung bedrohten Polareises. Doch dann wurde sie unwiderstehlich von Raphaels Arbeit angezogen.
„Sehen Sie sich nur diese Komposition an“, sagte Paul neidisch und zeigte auf ein Bild von kleinen Jungen mit schmutzigen Gesichtern, die auf einer staubigen Straße Fußball spielten. Zu beiden Seiten der tristen Straße zogen sich üppig grüne Wiesen hin.
Eve ging unauffällig etwas näher heran und wünschte sich, nicht aus Eitelkeit auf die Brille verzichtet zu haben.
„Diese Aufnahmen strahlen eine unglaubliche Emotion aus“, fuhr Paul fort. „Man hat diese Menschen stets nur als Verbrecher betrachtet,
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