Verführung in Manhattan
kannten als wir. Sie hatten den Mut, alles zurückzulassen, was sie besaßen, um ihren Kindern das Einzige zu geben, was sie nie gehabt hatten: die Freiheit.“
Gerührt legte Sydney die Hand auf seine Finger am Schalthebel. Margerite hatte erzählt, dass Mikhail undseine Eltern mit einem Fuhrwerk nach Ungarn geflüchtet waren. Die Mutter hatte es wie ein romantisches Abenteuer dargestellt. Ihr, Sydney, kam eine Flucht nicht romantisch vor, sondern beängstigend. „Sie müssen furchtbare Angst gehabt haben.“
„Mehr, als ich je wieder erleben möchte. Als wir Amerika erreichten, weinte mein Vater. Und ich begriff, dass wir es geschafft hatten.“
Sydneys Augen füllten sich ebenfalls mit Tränen. Sie wandte sich ab, damit der Wind sie trocknete. „Hier muss es doch auch schlimm gewesen sein. Ein fremdes Land, eine fremde Sprache, eine fremde Kultur …“
Er hörte die innere Bewegung in ihrer Stimme. Sie sollte seinetwegen nicht traurig sein. „Kinder passen sich schnell an“, versicherte er ihr. „Ich brauchte dem Jungen von nebenan nur die Nase blutig zu schlagen, schon fühlte ich mich zu Hause.“
Sie drehte sich wieder zu ihm. Sie sah, dass er lächelte, und lachte ebenfalls. „Und anschließend wurden Sie unzertrennliche Freunde, nehme ich an.“
„Bei seiner Hochzeit vor zwei Jahren war ich Trauzeuge.“
Sie lehnte sich zurück und stellte fest, dass sie soeben die Brücke nach Brooklyn überquerten. „Konnten Sie nicht etwas in Manhattan finden?“
Er lächelte noch breiter. „Nicht so etwas wie hier.“
Kurz darauf fuhr Mikhail durch eines der alten Viertel von Brooklyn mit seinen verblichenen Backsteinreihenhäusern und den hohen schattigen Bäumen. Kinder spielten auf den Gehsteigen, fuhren Rad und sprangen mit dem Seil. Am Randstein, wo er den Wagen anhielt, tauschten zwei Jungen Baseballkarten aus.
„He, Mik!“ Sie sprangen auf, bevor Mikhail aus dem Wagen war. „Du hast das Spiel verpasst. Es ist seit einer Stunde vorbei.“
„Ich werde das nächste Mal zusehen“, versprach er. Er drehte sich um und stellte fest, dass Sydney ebenfalls ausgestiegen war und sich argwöhnisch umsah. Geheimnisvoll beugte er sich vor und zwinkerte den Jungen zu. „Ich habe eine tolle Frau mitgebracht.“
„Oje.“ Die ganze Verachtung eines Zwölfjährigen für alle Mädchen klang aus dieser Bemerkung.
Lachend ging Mikhail zu Sydney, fasste ihren Arm und zog sie auf den Gehsteig.
„Ich verstehe das nicht“, begann sie, als er sie über den Asphalt führte, der hier und da von den Wurzeln einer gewaltigen Eiche angehoben wurde. „Dies ist ein Restaurant?“
„Nein.“ Er musste sie ziehen, damit sie auf der Treppe mit ihm Schritt hielt. „Es ist ein Privathaus.“
„Aber Sie sagten doch …“
„Dass wir gemeinsam zu Abend essen würden.“ Erschob die Tür auf und schnüffelte. „Hm, es riecht, als hätte Mama Kiew-Hähnchen gebraten. Das wird Ihnen schmecken.“
„Ihre Mutter?“ Sydney wäre in dem schmalen Eingang beinahe gestolpert. Die unterschiedlichsten Gefühle durchströmten sie. „Sie bringen mich in Ihr Elternhaus?“
„Ja, zu einem Sonntagsessen.“
„Du liebe Güte!“
Er zog eine Braue in die Höhe. „Mögen Sie kein Kiew-Hähnchen?“
„Nein. Doch. Darum geht es nicht. Ich hatte nicht erwartet …“
„Du kommst spät!“ rief Yuri aus dem Wohnzimmer. „Bringst du die junge Dame herein, oder bleibt ihr draußen auf dem Flur stehen?“
Mikhail ließ Sydney nicht aus den Augen. „Sie will nicht mitkommen“, schrie er zurück.
„Das stimmt nicht“, flüsterte Sydney entsetzt. „Aber Sie hätten es mir sagen müssen, damit ich … Oh, das ist jetzt auch egal.“ Entschlossen ging sie an Mikhail vorüber und betrat das Wohnzimmer. Yuri stand sofort auf.
„Mr. Stanislaski, es ist sehr nett, dass Sie mich eingeladen haben.“ Sie reichte Mikhails Vater die Hand, und er drückte sie fest.
„Sie sind uns herzlich willkommen. Nennen Sie mich bitte Yuri.“
„Danke.“
„Wir freuen uns sehr, dass Mikhail so einen guten Geschmack hat.“
„Danke, Papa.“ Lässig legte Mikhail einen Arm um Sydneys Schultern und merkte, dass sie ihn gern wieder abgeschüttelt hätte. „Wo sind die anderen?“
„Mama und Rachel sind in der Küche. Alex verspätet sich noch mehr als du. Er verabredet sich immer mit allen Mädchen gleichzeitig“, fügte er an Sydney gewandt hinzu.
„Yuri, du hast den Abfall noch nicht hinausgetragen.“ Eine kleine Frau mit
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