Verführung in Manhattan
„Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Wagen haben.“
Mikhail lächelte ein wenig, während sie auf den Flur traten. „Ich habe ihn vor einigen Jahren gekauft, als ich mit meiner Kunst zum ersten Mal Erfolg hatte. Er war eine Art Traum von mir. Inzwischen haben die Kosten für die Parkgarage vermutlich den Anschaffungspreis überschritten. Träume sind selten kostenlos.“
Sie betraten den Fahrstuhl, und Mikhail drückte auf den Knopf zum Untergeschoss.
„Ich habe auch schon daran gedacht, einen Wagen zu kaufen“, gab Sydney zu. „Mir fehlt die Unabhängigkeit, jederzeit einsteigen und irgendwohin fahren zu können. Vor dem Tod meines Großvaters war ich zwei Jahre in Europa und habe das sehr genossen. Hier in New York scheint es dagegen sinnvoller zu sein, einen Fahrer einzustellen, als ständig um einen Parkplatz zu kämpfen.“
„Irgendwann werden wir gemeinsam am Fluss entlangnach Norden fahren. Dort können Sie das Steuer gern übernehmen.“
Der Gedanke, in Richtung Berge zu fahren, gefiel ihr sehr. Trotzdem ging sie nicht auf seine Bemerkung ein. „Ihr Bericht ist am Freitag angekommen“, sagte sie stattdessen.
„Nicht heute.“ Er ergriff ihre Hand, während sie die Tiefgarage betraten. „Das Gespräch über den Bericht hat bis Montag Zeit. Hier.“ Er öffnete die Tür eines glänzenden roten MG. Das Verdeck war heruntergeklappt. „Es macht Ihnen doch nichts aus, mit offenem Dach zu fahren?“ fragte er, während sie sich hineinsetzte.
Sydney musste an die Mühe denken, die sie sich mit ihrer Frisur gegeben hatte. Andererseits war die Vorstellung, das Haar von einer heißen Brise zerzausen zu lassen, ausgesprochen reizvoll. „Nein, es macht mir nichts aus.“
Mikhail glitt hinter das Lenkrad und startete den Motor. Er setzte eine Sonnenbrille auf und fuhr hinaus. Im Radio erklang Rockmusik. Sydney lächelte versonnen, während sie um den Central Park fuhren.
„Sie haben noch nicht gesagt, wohin wir fahren.“
„Ich kenne da etwas, wo das Essen ausgezeichnet ist.“ Befriedigt stellte er fest, dass sie mit dem Fuß im Takt wippte. „Wo in Europa haben Sie gelebt?“
„Oh, ich bin nicht an einem Ort geblieben. Ich war in Paris, Saint Tropez, Venedig, London und Monte Carlo.“
„Haben Sie vielleicht Zigeunerblut in den Adern?“
„Mag sein.“ Wanderlust hatte sie gewiss nicht durch halb Europa getrieben. Sie war mit sich selbst unzufrieden gewesen und hatte das Bedürfnis gehabt, sich zu verstecken, bis die Wunden geheilt waren. „Waren Sie seit Ihrer Kindheit noch einmal drüben?“
„Nein, das war ich nicht. Aber ich würde gern wieder hinfahren, weil ich die Kunst, die Atmosphäre, die Architektur und all das als Erwachsener richtig zu würdigen wüsste. Wo hat es Ihnen am besten gefallen?“
„In einem kleinen französischen Dorf auf dem Lande, wo die Kühe noch mit der Hand gemolken wurden und dicke rote Trauben an den Weinstöcken hingen. Zu dem Gasthof, in dem ich wohnte, gehörte ein Garten mit großen bunten Blumen. Dort konnte man nachmittags sitzen, einen fantastischen Rotwein trinken und auf das Gurren der Tauben lauschen.“ Sie schwieg verlegen. „Außerdem hat mir natürlich Paris gefallen“, fügte sie rasch hinzu. „Das Essen, die Geschäfte, das Ballett … Ich kannte dort eine Menge Leute, und die Partys haben mir viel Spaß gemacht.“
Aber nicht so viel, wie allein im Garten zu sitzen und die Blumen zu betrachten, überlegte er.
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, in die Ukraine zurückzukehren?“ fragte Sydney. „Inzwischen ginge es ja.“
„Ziemlich oft sogar. Ich möchte den Ort wiedersehen, in dem ich geboren wurde, und das Haus, in dem wir gewohnt haben. Vielleicht steht es gar nicht mehr. Aber die Hügel, auf denen ich als Kind gespielt habe, müssen noch da sein.“
Sie konnte seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht sehen, doch sie ahnte, dass sie wehmütig dreinblickten. „In den letzten Jahren hat sich viel verändert. Glasnost und Perestroika … Die Berliner Mauer ist gefallen, der Ostblock bricht auseinander. Sie könnten tatsächlich fahren.“
„Manchmal denke ich, dass ich es tun werde. Aber dann frage ich mich, ob es nicht besser wäre, es bei der Erinnerung zu belassen. Sie ist zum Teil bitter, zum Teil süß, aber immer mit den Augen eines Kindes gesehen. Ich war noch sehr jung, als wir die Heimat verließen.“
„Das muss sehr schwer gewesen sein.“
„Ja. Vor allem für meine Eltern, die das Risiko bes ser
Weitere Kostenlose Bücher