Verführung pur
schon unangefochtene Spitze.”
Mia glaubte selbst von hier aus zu hören, wie es im Magen ihres Großvaters rumorte. Sie liebte ihre Großeltern, die nie über die Schande hinweggekommen waren, dass ihre einzige Tochter mit sechzehn Jahren ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte.
Sie hatten Mia allein aufgezogen und darauf bestanden, dass Noelle ein College weit weg von Twin Palms besuchte, wo sie unter Fremden lebte, die nichts von ihrer Vorgeschichte wussten.
Natürlich war der Plan nicht aufgegangen, denn Noelle hatte sich keine Sekunde dafür geschämt, eine Tochter zu haben.
“Mom?”
“Ja, ja, ich verspreche dir, dass ich deinen Großvater mit Samthandschuhen anfasse und ihn bis oben mit Säurehemmern vollstopfe, wenn du mir verrätst, wie ich diese bescheuerte Fehlermeldung wegdrücke.”
“Drück auf Escape”, zischte Mia ins Telefon und bereute, dass sie ihr Handy nicht ausgeschaltet hatte. Nicht einmal ihre Tagträume konnte sie in Ruhe genießen! Musste sie denn immer und überall für ihre Familie verfügbar sein?
Endlich hörte sie ein leises Brummen, das sie auf Anhieb erkannte. Die Kasse druckte einen Beleg aus.
“Du bist brillant!”, rief Noelle. “Aber wie sollte es auch anders sein? Schließlich bist du meine Tochter. Genieß deine Zeit in Tampa, und mach dir keine Sorgen um uns und den Laden. Wir kommen prima zurecht. Küsschen!”
Mia starrte eine Weile schweigend auf ihr Handy.
Wenn alle so prima zurechtkamen, warum streikte dann der Computer und ihr Großvater musste literweise Medizin schlucken? Wie es aussah, musste sie sich nach ihrem Banktermin schnellstmöglich auf den Heimweg machen. Das bedeutete, dass sie den Abstand zwischen sich und dem Mann, an den sie tagsüber ununterbrochen dachte und vom dem sie zwei Nächte geträumt hatte, vergrößern würde.
Doch die Familie ging vor – egal, wie chaotisch sie sein mochte.
Wie bei Aschenputtel war auch ihr Wunschtraum um Mitternacht vorbei gewesen. Und was konnte ernüchternder sein, als ihr bevorstehendes Gespräch mit der Kreditsachbearbeiterin?
“Die Vorstandssitzung meiner Bank beginnt in einer halben Stunde, Brock. Meinst du, du kannst ein bisschen mehr Tempo aus deinem Boot herauskitzeln?” Seth betrachtete den verdächtig unbewegten Wasserspiegel des Hillsborough-Flusses und fragte sich, ob sie sich überhaupt vorwärts bewegten. Brocks altes Fischerboot war zwar sehr zuverlässig, lief aber kaum schneller als eine Wasserschnecke.
“Du kennst die Regeln auf dieser Wasserstraße. Ich darf gar nicht so schnell fahren, dass wir eine Bugwelle haben.” Normalerweise scherte Brock sich nicht sonderlich um die strengen Vorschriften für den Schiffsverkehr auf dem Kanal. Eigentlich wollte er vor allem die Aussicht auf die Innenstadt von Tampa genießen. “Was hast du bloß? Du wirkst schon den ganzen Tag hyperaktiv.”
Das musste daran liegen, dass Seth nicht gerade begeistert war, mit seinem Onkel zum Fischen rauszufahren, während er an nichts als Mia Quentin denken konnte. Andererseits plante er, Brock um einen Gefallen zu bitten, und eine gemeinsame Bootstour eignete sich nun einmal am besten, um seinen Onkel positiv zu stimmen.
Brock war deutlich jünger als Seths Vater, ein Nachzügler sozusagen, und dennoch war er immer Seths eigentliche Vaterfigur gewesen und zugleich der große Bruder, den er nicht hatte.
“Ich brauche deine Hilfe.”
“Holla, das ist das zweite Mal innerhalb einer Woche! Da kann man in deinem Fall schon von einem neuen Rekord sprechen.” Brock trank seinen dritten Eiskaffee an diesem Nachmittag und drosselte den Motor, als die Gulf Coast Bank endlich in Sichtweite war.
“Du musst mir helfen, Mia zu finden.”
“Hast du sie etwa verloren?”
“Sie hat heute Morgen aus ihrem Hotel ausgecheckt, und ich habe ihre richtige Adresse nicht.” Er erwähnte lieber nicht, dass sie auf seine unzähligen Nachrichten hin nicht zurückgerufen hatte. Ungeduldig auf die Reling trommelnd, starrte Seth auf den Bau des Museums für moderne Kunst, das direkt am Fluss lag. “Möglicherweise hat sie mich missverstanden und meint, ich wollte nur eine kurze Affäre mit ihr.”
“Kluges Mädchen.” Brock knüllte den Pappbecher zusammen und ließ ihn mit einem gezielten Wurf im Mülleimer landen, der ungefähr dreieinhalb Meter entfernt stand. “Nimm es mir nicht übel, aber im Umgang mit dem schönen Geschlecht hast du bisher immer eine schwache Figur abgegeben. Wenn ich sie wäre, würde
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