Vergangene Narben
bis ans Lebensende weggesperrt zu werden. Ich meine, ich hatte keine Angst vor meinem Vater, oder so. Um Gottes Willen, er würde sich wahrscheinlich eher selbst etwas antun, bevor er mir ein Haar krümmte, aber ich wollte halt auch nicht, dass er merkte, dass ich ihn belog. Er meinte es ja immer nur gut mit mir, auch wenn er häufig übers Ziel hinaus schoss.
Seufz.
„Schluss jetzt“, sagte ich mir laut, richtete mich auf, und steckte das Handy weg. Darüber konnte ich mir später noch Gedanken machen. Jetzt musste ich erst mal nach Tenor, um etwas zwischen die Kauleisten zu bekommen – die hatten schließlich sinnvollen Zweck, den ich auch nutzen sollte. Und dann konnte ich mich ja vielleicht noch mal in die Gärten schleichen. Sydney hatte doch gesagt, dass meine Erzeugerin sich meist abends dort aufhielt.
„Komm, Flair, wir gehen jetzt erst mal einkaufen.“
Ich sagte noch schnell Roland in der Reitstube Bescheid, dass ich jetzt weg war, und dann machte ich mich auf den langen Spaziergang hinunter nach Tenor. Obwohl es kalt war, freute Flair sich einen Kullerkeks. Der Schnee war schon so platt getreten, dass sie keine Probleme hatte darüber zulaufen. Doch so dicht wie der Himmel behangen war, würde da heute sicher noch einiges runterkommen.
Flair ließ ich vor dem Laden sitzen, als ich Proviant für mehrere Tage einholte. Dann waren wir auch schon wieder auf dem Rückweg. Doch bis ich alles verstaut hatte, und in mein Zimmer konnte, war es schon nach acht, und ich hundemüde, sodass ich mich nur noch schnell bei meinen Zimmergenossinnen vorstellte, schnell unter die Dusche hüpfte, und mich dann mit Flair unter meine Decke kuschelte. Und obwohl die Erlebnisse das Tages noch in meinen Gedanken kreisten, schief ich sehr rasch ein, und träumte irgendeines Blödsinn.
Ich stand wieder in der Reithalle, doch dieses Mal war sie ganz aus Glas. Von der Decke rieselte Schnee, und überzog den Boden mit einer dicken, weißen Schicht, die bei jedem Schritt unter meinen Stiefeln knirschte. Draußen jedoch war bereits Sommer. Die Natur war zu voller Blüte erwacht, glänzte in ihrer ganzen Schönheit, und die Sonne strahlte warm vom blauen Himmel. Kein Wölkchen, nur eine unendliche, blaue Weite. Hier drinnen jedoch war es so kalt, dass ich meine Wollmütze tiefer über die Ohren zog, und die Hände trotz Handschuhe in den Jackentaschen vergrub.
Ich war allein, einsam, und konnte durch die Wände das Leben dort draußen toben sehen. Aber die Leute dort draußen schienen mich gar nicht zu bemerken. Sie hatten alle keine Gesichter. Das war unheimlich.
„Sieh genau hin, wuff!“,
dröhnte eine piepsige Stimme durch die Halle.
Ich fand es überhaupt nicht irritierend, dass Flair gleich darauf auf einem Lipizzaner reitend in die Halle kam, und hoch oben auf dem Pferd zusammen mit Fujo ihr Kunststück wo-ist-der-Floh aufführte. Nur kratzte sie dabei Fujo, und nicht sich selber.
„So ist das aber nicht richtig“,
erklärte ich ihnen.
Fujo lächelte vorsichtig.
„S-sieh hinaus, s-sieh richtig hin.“
Richtig hinsehen?
„Wohin?“
„Nach d-d-draußen.“
Aber draußen war doch nichts außer dieser gesichtslosen Monstermenge, die mit jeder verstreichenden Minute anzuwachsen schien. Wenn sie weiter so zunahm, würde sie irgendwann gegen die Glaswände dängen, und sie eindrücken. Sie würden das ganze Glashaus zum Einsturz bringen.
„Hört auf zu wachsen!“
Meine Worte halten von den Wänden wieder, doch draußen schien sie keiner zu hören. Es war als befände ich mich in einer anderen Dimension, als könnte ich zwar all das sehen, doch existierte ich nur in diesem Raum, weil ich so anders war.
„Hört auf!“
„Sieh h-h-hinaus.“
„Das tu ich, aber da ist nichts.“
„Sieh richtig hin, wuff.“
Das tat ich doch, aber da war nichts außer dieser ständig anwachsenden gesichtslosen Menge. Da war nur … Moment, dieser Mann dort, er war anders. Er bewegte sich nicht, stand einfach still auf der Stelle, und hatte mir den Kopf zugewandt. Ohne Augen, ohne Nase, ohne Mund. Doch plötzlich arbeitete sich aus der Haut eine lange Narbe hervor. Und noch eine, und noch eine. Und dann erkannte ich, wer dort einsam in der Masse stand. Er war nicht länger gesichtslos, und seine Augen stachen wie zwei Mahnmale aus der Menge hervor.
„Sieh hin, wuff“,
bellte Flair.
„Sieh richtig hin.“
Der Lipizzaner zog seine Kreise um mich herum.
„Aber ich sehe doch hin.“
„Sieh genauer hin, wuff.“
Aber das tat ich doch
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