Vergangene Schatten
sie von einem Lastwagen überfahren worden. Und dann würde es ihr auch gelingen, Matt aus ihren Gedanken zu verbannen.
»Sandra! Ich bin wieder da«, rief sie und ging mit ihrem Glas zum zweiten Wohnzimmer hinüber, wo, wie sie hören konnte, der Fernseher lief. Sie konnte jetzt etwas Abwechslung gebrauchen, und die würden ihr Sandra und der Fernseher bieten -auch wenn Sandra sie bestimmt mit Fragen über ihren Abend mit Matt löchern würde.
Sandra gab keine Antwort. Sie war nicht mehr im Wohnzimmer, musste aber eben noch hier gewesen sein, denn neben ihrem Lieblingssessel lag eine Zeitschrift und auf dem Tisch davor stand eine offene Dose Diet Mountain Dew, ihr neues Lieblingsgetränk. Hugo hatte sich aus dem Staub gemacht, und es war völlig still im Haus - fast zu still. Normalerweise wäre Annie längst auf sie zugestürmt, um sie zu begrüßen. Sie vermisste den kleinen Hund sehr, was ziemlich bemerkenswert war, wenn man bedachte, dass er erst seit kurzer Zeit bei ihr lebte. Während Hugo für gewöhnlich seine eigenen Wege ging, war Annie eine treue Gefährtin. Unglaublich, dass sie irgendwo etwas Giftiges gefressen hatte. Gott sei Dank würde sie es überleben. Gleich morgen, sagte sich Carly, würde sie nach der Ursache suchen. Vielleicht hatte Miss Virgie etwas gegen die Mäuse ausgestreut.
»Sandra?«, fragte Carly und ging zum vorderen Wohnzimmer zurück. Da hörte sie plötzlich das Geräusch von fließendem Wasser. Sandra ließ sich offenbar gerade ein Bad ein. Natürlich, es war fast elf Uhr. Sandra duschte für gewöhnlich morgens, musste aber beschlossen haben, noch ein Bad zu nehmen, bevor sie zu Bett ging.
Carly nahm noch einen Schluck von dem Orangensaft und stellte erleichtert fest, dass sie schon geduscht hatte. Der Boiler war schon ziemlich alt - wieder etwas, das erneuert werden musste - und lieferte kaum genug heißes Wasser für zwei Vollbäder hintereinander.
Hugo kam wieder zurück und schlich um Carlys Füße herum, während sie einen Rundgang durch das Erdgeschoss machte, um die Lichter auszuschalten. Seit sie im Esszimmer auf einen Einbrecher gestoßen war, hielt sie sich nachts hier drin nicht gern allein auf - und das war auch an diesem Abend so. Auch das Wissen, dass Sandra oben war, nahm ihr nicht das mulmige Gefühl, das sie jedes Mal überkam, wenn sie im Esszimmer das Licht ausschaltete. Doch Strom war teuer, und sie konnten es sich nicht leisten, das Haus die ganze Nacht zu beleuchten wie einen Christbaum - auch wenn ihr die Dunkelheit insgeheim Angst machte. Dafür hatten sie ja die Alarmanlage. Als Carly noch einmal durch die Küche ging, um das letzte Licht im Erdgeschoss auszuschalten, sagte ihr das tröstliche rote Auge des Sicherheitssystems, dass die Anlage in Betrieb war und das Haus bewachte.
Nachdem es im Erdgeschoss dunkel war und Carlys Herz lächerlicherweise schneller zu schlagen begann, eilte sie die altmodische breite Treppe hinauf. Hugo lief ihr voraus; er schien es genauso eilig zu haben, in den ersten Stock zu kommen, wie sie selbst. Hier oben war es nicht besonders hell, doch die kleine Lampe über dem oberen Treppenabsatz war eingeschaltet, und auch das Licht im hinteren Badezimmer brannte, nachdem Sandra ja dort drinnen war. Und wenn sie erst in ihrem Zimmer war, rief sich Carly angesichts ihrer Beklommenheit in Erinnerung, konnte sie ja die Tür zusperren. Wenn man dann noch bedachte, dass die Fenster vernagelt waren und die Alarmanlage das Haus bewachte, so konnte man wohl sagen, dass ihr Zimmer ein absolut sicherer Ort war.
Sie wusste, dass es lächerlich war - aber seit sie hier in diesem Haus lebte, machte ihr die Nacht wieder Angst.
Carly verbannte diesen Gedanken ebenso aus ihrem Kopf wie die Gedanken an Matt, wenngleich ihr Letzteres nur zum Teil gelang, wie sie sich eingestehen musste. Sie holte tief Luft, nahm noch einen Schluck Orangensaft zur Beruhigung und begab sich raschen Schrittes zu ihrem Zimmer. Sie fühlte sich schon wieder etwas besser, jetzt, da sie sich nicht mehr im Dunkeln bewegen musste. Hugo, der den gewohnten Ablauf bereits gut kannte, ging ihr voraus. Das Badezimmer, in dem sich Sandra aufhielt, lag zwischen ihren beiden Zimmern. Unter der Tür war Licht zu erkennen, genau wie Carly vermutet hatte. Die Tür zu Sandras Zimmer war geschlossen, die zu ihrem Zimmer hingegen nur angelehnt, so wie sie sie zurückgelassen hatte. Beide Zimmer waren dunkel. Außer dem Licht im Flur und dem Licht, das aus dem Badezimmer
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