Vergangene Schatten
sie mit Blei gefüllt, und trottete den Hügel hinauf - gefolgt von Sandra, Mike und Antonio. Mike trug mehrere Besen und Mopps sowie den Staubsauger, während Antonio mit verschiedenen Kisten beladen war.
Es war ein drückend heißer Tag. Carly spürte die Feuchtigkeit, die in der Luft hing, bei jedem Schritt den Hügel hinauf. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Vögel sangen, die Grillen zirpten, und die Stechmücken strömten in Scharen herbei, um sich ihre Opfer zu suchen. Wenigstens boten die dichten Baumkronen einen gewissen Schutz vor der sengenden Sonne. Als Carly die Veranda erreichte, war sie so weit, dass sie den feuchtheißen Sommer hier im Süden liebend gern gegen die kühle Brise des Michigansees eingetauscht hätte. Sie hatte ganz vergessen, wie heiß der Juli in Georgia sein konnte.
»Ich hab mein Handy gefunden«, verkündete Sandra triumphierend. Carly drehte sich zu Sandra um, die grinsend ihr Handy hochhielt. Sandra leuchte wie eine Dampflok und schwitzte aus allen Poren - dennoch hatte Carly sie nie glücklicher gesehen als in diesem Moment. Man brauchte kein Psychologe zu sein, um zu wissen, warum: Antonio hatte zu ihr aufgeschlossen und ging jetzt neben ihr her.
Es wurden eben tatsächlich neue Lebensgeister geweckt, wenn man sich für jemanden interessierte.
»Gut«, sagte Carly und stellte ihre bleischwere Tasche auf den Boden. Sie gab vor, auf die anderen zu warten, und betrachtete das alte Haus, das da vor ihr stand. Mit seinem achteckigen Turm, der breiten Veranda und den schönen Fensterläden strahlte das Gebäude den Charme des neunzehnten Jahrhunderts aus, was der neuen Verwendung als Frühstückspension durchaus förderlich sein konnte. Doch die Farbe blätterte schon ab, einige der Fensterläden hingen ein wenig schief, und das Verandadach hing an einem Ende etwas durch. Carly erinnerte sich daran, dass sie vergangene Nacht ein Tropfgeräusch gehört hatte, was darauf hindeutete, dass auch das Dach ausgebessert werden musste. Dann waren da noch die Wasserleitungen, die elektrischen Leitungen und ...
Wütendes Gebell zerriss die Stille. Zu ihrer größten Bestürzung sah Carly, wie Hugo unter der Veranda hervorgeschossen kam, verfolgt von dem Köter, der letzte Nacht schon hier war. Carly brauchte einen Augenblick, um sich aus ihrer Erstarrung zu lösen, dann riss sie Mike einen Besen aus der Hand und stürmte mit einem Kriegsruf, der jedem Indianerhäuptling zur Ehre gereicht hätte, los, um ihrer Katze beizustehen.
»Hugo!«
Als Carly, den Besen schwingend, die Stufen zur Veranda hocheilte, sah sie, wie Hugo sich auf die Lehne des kleinen Sofas flüchtete, wohin der Hund ihm nicht folgen konnte. Laut kläffend und bellend sprang er um die unerreichbare Katze herum.
»Böser Hund!«, rief Carly und schlug mit dem Besen direkt vor dem Hund auf den Boden. Das Tier jaulte auf, und im nächsten Augenblick sprang Hugo auf Carly zu. Der Besen flog hoch in die Luft, als die Katze gegen ihre Schulter prallte - in dem fehlgeschlagenen Versuch, in ihren Armen Schutz zu finden. Rückwärts taumelnd versuchte Carly die Katze aufzufangen ... und stürzte die Verandatreppe hinunter.
Hals über Kopf purzelte sie hinunter und bekam einen kurzen, aber anschaulichen Eindruck davon, wie es einem Fußball ergehen musste, ehe sie schließlich im dichten Gras landete. Einen Moment lang lag sie flach auf dem Rücken, während sich über ihr alles drehte. Dann spürte sie plötzlich etwas Warmes und Feuchtes an ihrer Wange. Sie blickte zur Seite und sah sich Auge in Auge mit dem verdammten Hund.
15
Er leckte ihr über das Gesicht. Carly sah direkt vor sich die dunklen Augen in dem kleinen dreieckigen Gesicht, die großen, spitz zulaufenden Ohren und den Körper, der so dünn war, dass man die Rippen unter dem groben schwarzen Fell hätte zählen können. Plötzlich machte der Hund kehrt und lief los, und als Carly allmählich wieder die Welt um sich herum wahrzunehmen begann, begriff sie auch, warum.
»Carly!«
Sandra, Antonio und Mike hatten alles stehen und liegen lassen und stürmten wie eine Viehherde auf sie zu. Wäre Carly imstande gewesen, ihre schmerzenden Glieder zu bewegen, so hätte sie wahrscheinlich Reißaus genommen, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Ist alles in Ordnung?«, rief Sandra und blieb gerade noch rechtzeitig vor ihr stehen, um sie nicht zu zertrampeln. Antonio und Mike waren einen Augeablick später bei ihr. Alle drei atmeten schwer und blickten besorgt zu ihr
Weitere Kostenlose Bücher