Vergangene Schatten
wahrscheinlich den ganzen Tag und die ganze Nacht zu nichts anderem mehr gekommen wäre -, war sie doch überzeugt, dass er sie sofort darauf aufmerksam machen würde, wenn sie in ihrem Haus nicht hundertprozentig sicher wäre. Jedenfalls würde sie sich von diesem nächtlichen Einbruch nicht davon abhalten lassen, hier ihr neues Leben zu beginnen.
Als sie auf den Streifenwagen zufuhr, der vor dem Haus angehalten hatte, stiegen die beiden Sheriff-Stellvertreter aus und kamen auf den Lieferwagen zu. Der stämmige dunkelhäutige Antonio sah aus, als würde ihn irgendetwas bedrücken. Mike hielt sich eine Hand über die Augen, um sie vor der Sonne abzuschirmen. Der gut gebaute und - abgesehen von dem schauderhaften Bürstenhaarschnitt - recht gut aussehende junge Mann sah den Wagen, in dem die beiden Frauen saßen, ebenfalls ziemlich skeptisch an.
»Bilde ich mir das ein, oder sehen die beiden wirklich irgendwie bedrückt aus?«, fragte Carly und stellte den Motor ab.
»Vielleicht haben sie das mit dem Briefkasten mitbekommen«, mutmaßte Sandra ein wenig unsicher, während die beiden Männer näher kamen.
»Das kann ich mir nicht...«, begann Carly und hielt erschrocken inne, als Sandra die Tür öffnete. Doch es war schon zu spät. Hugo erkannte sofort die Gelegenheit, zu entwischen, und schoss wie ein Pfeil ins Freie hinaus. Carly versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten.
»Tut mir Leid«, sagte Sandra und verzog schuldbewusst das Gesicht, während sie aus dem Wagen stieg.
»Schon gut«, sagte Carly und atmete tief durch.
Solange nicht irgendein wild gewordener Köter auftauchte, hatte Hugo wahrscheinlich nichts zu befürchten.
»War das die Katze?«, fragte Mike, nichts Gutes ahnend.
»Ja«, antwortete Sandra und verdrehte die Augen.
»Oh, Mann, das war vielleicht ein Spektakel«, sagte Mike grinsend. »Sie hätten Matt sehen sollen, wie er ...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, nachdem Antonio ihn unsanft mit dem Ellbogen angestoßen hatte. Mike griff sich an die Rippen und sah Antonio vorwurfsvoll an. Doch im nächsten Augenblick grinste er schon wieder.
»Wollen Sie, dass wir ihn einfangen?«, fragte Antonio, zu Carly gewandt. Mike hörte abrupt zu grinsen auf und machte plötzlich ein ziemlich beunruhigtes Gesicht. Carly hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war.
»Nein«, sagte sie seufzend, »ich glaube nicht, dass das notwendig ist.«
Hugo war im Grunde in der gleichen Situation wie sie selbst. Auch er musste alles Gewohnte aufgeben und ganz neu anfangen, auch wenn es ihm schwer fiel.
»Zu Ihrer Information - wir haben ein Tempolimit hier in der Stadt, nämlich fünfundzwanzig Meilen«, sagte Antonio in sachlichem Ton. »Sie haben wahrscheinlich die Schilder nicht gesehen.«
Sandra murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Nein, hab ich nicht«, sagte Carly wahrheitsgemäß. Carly musste sich eingestehen, dass es einen kleinen Nachteil hatte, wenn man so geladen war, wie sie es seit vergangener Nacht ohne Zweifel war: Man hatte absolut kein Auge mehr für die kleinen Dinge des Lebens, wie zum Beispiel Verkehrsschilder.
Antonio nickte und wandte seine Aufmerksamkeit Sandra zu, worauf Carly aus dem Führerhaus des Wagens stieg. Sie blickte sich nach Hugo um - doch der war nirgends zu sehen. Gestern um diese Zeit wäre sie noch sehr besogt darüber gewesen. Sie machte sich immer noch Sorgen, wie ihr bewusst wurde, doch sie fand sich mit der Situation ab. Es war nun einmal so, dass sie und Hugo ins kalte Wasser gesprungen waren - und jetzt musste sich zeigen, ob sie schwimmen konnten. Sie hätte sich eine so radikale Änderung der Lebensumstände nicht unbedingt gewünscht - doch vielleicht würde ihnen beiden gerade das gut tun. Es war eine dieser berühmten Gelegenheiten, zu wachsen und Erfahrung zu sammeln, von denen man die Leute immer wieder reden hörte - vor allem in diesen Fernseh-Talkshows, für die Carly viel zu viel Zeit gehabt hatte, nachdem es mit dem Treehouse vorbei war.
Carly musste sich eingestehen, dass sie ihr Restaurant vermisste, genauso wie ihre frühere Wohnung, ihren Wagen und das Geld, das sie einst auf dem Konto hatte. Eines jedoch vermisste sie überhaupt nicht, wie sie ein wenig überrascht feststellte, nämlich ihren Exmann John. Rückblickend sah sie mit absoluter Klarheit, dass es in dieser Ehe immer nur darum gegangen war, Sicherheit, Erfolg und einen gewissen Status im Leben zu erreichen - und nie um so etwas wie Liebe oder
Weitere Kostenlose Bücher