Vergangene Schatten
Zusehen fast geschmolzen.«
»Nun mach mal halblang, Sandra«, erwiderte Carly müde.
»Dann hast du ihn ans Schienbein getreten. Also, die Männer mögen so was normalerweise nicht sehr. Außer sie sind ein wenig pervers. Ist dein Sheriff vielleicht pervers? Wenn er's ist, will ich ihn nämlich haben.«
»Sandra...«
Nachdem sich Carly auf der Heimfahrt schon einiges zu diesem Thema hatte anhören müssen, hatte sie mittlerweile absolut genug davon. Sie hatte ohnehin schon die Demütigung über sich ergehen lassen müssen, an Matts Freunden und Verwandten vorbeizugehen, als sie von Matt flüchtete. Sie waren plötzlich verstummt, als sie sie sahen, doch man musste kein Genie sein, um zu wissen, worüber sie vorher getratscht hatten. Hallo, Carly, hatten sie ein wenig verlegen gemurmelt, und Carly hatte ein Lächeln zustande gebracht und den Gruß erwidert. Gott sei Dank hatte sie dann um die Ecke biegen müssen, um zu ihrem Wagen zu gelangen. Nie zuvor in ihrem Leben war sie so froh gewesen, sich in die Dunkelheit flüchten zu können.
Gerade als Carly sich so einigermaßen klar gemacht hatte, was soeben geschehen war, tauchte auch Sandra ziemlich aufgeregt beim Wagen auf. Es war einfach nicht zu glauben, dass gerade in dem Moment, wo sie Matt so richtig die Meinung gesagt hatte - und das recht ordentlich, wie sie fand -, dass Matt sie gerade da einfach so küsste und der ganze Wahnsinn aufs Neue begann. Unvorbereitet wie sie war, hatte Carly so reagiert, wie sie immer reagiert hatte, wenn Matt sie in die Arme nahm: Sie war regelrecht dahingeschmolzen. Zum Glück waren sie in dem Kuss unterbrochen worden.
Wenigstens hatte sie dann noch die Gelegenheit, sich von ihm zu distanzieren, genutzt und ihn gegen das Schienbein getreten und ihm außerdem gesagt, was sie von ihm hielt.
Während der ganzen Heimfahrt konnte Sandra den Vorfall offensichtlich nicht vergessen. Carlys Versuch, die Sache herunterzuspielen, indem sie behauptete, das Ganze wäre nichts anderes gewesen als ein Kuss zwischen zwei alten Freunden, war offensichtlich nicht wirklich überzeugend. Im Gegenteil, Sandra ging nun ihrerseits dazu über, bis ins kleinste Detail zu schildern, was sie gesehen hatte.
»Was ich einfach nicht verstehe, ist, warum du zu ihm gesagt hast, dass du ihn nie wiedersehen willst. Wenn er mich so küssen würde, dann wäre das das Letzte, was ich zu ihm sagen würde.« Sandra lächelte, und ihre weißen Zähne leuchteten in der Dunkelheit. »Ich würde so schnell mit ihm ins Bett hüpfen, dass er gar nicht weiß, wie ihm geschieht.«
Die beiden überquerten die Wiese und näherten sich bereits dem Haus. Der Duft von gemähtem Gras erfüllte die Luft ebenso wie das nächtliche Konzert der Laubfrösche. Carlys Ärger über die ganze Sache wurde von Minute zu Minute größer.
»Mir ist nicht aufgefallen, dass du Antonio schon im Bett gehabt hättest«, erwiderte sie und hielt sich in ihrer Verzweiflung an die alte Weisheit, dass ein Gegenangriff immer noch die beste Verteidigung war.
»Das braucht eben seine Zeit«, sagte Sandra lächelnd. »Ich will nicht, dass er glaubt, ich bin leicht zu haben.«
Es war fast schon Mitternacht. Die Luft war immer noch so drückend wie in einem Treibhaus. Der Van war hinter ihnen in der Nähe der Straße geparkt. Vor ihnen im Haus waren alle Lichter eingeschaltet. Nach dem Schreck gleich nach der Ankunft im neuen Haus hatten Sandra und Carly übereinstimmend beschlossen, dass sie - Stromrechnung hin oder her - niemals zu einem dunklen Haus heimkehren wollten. Die Alarmanlage war jeden Cent wert, den sie gekostet hatte; ja, Carly glaubte nicht, dass sie jemals ruhig hätte schlafen können, wenn sie nicht gewusst hätte, dass dieser stille Wächter an den Fenstern und Türen stets auf der Hut war. Aber wenn sie draußen waren, half ihnen auch die Alarmanlage nichts - und so gingen sie trotz der Steigung und der Hitze raschen Schrittes zum Haus hinauf. Carly sah sich außerdem nach jedem zweiten Schritt verstohlen um.
Auch wenn sie es sich nur ungern eingestand - sie hatte ein wenig Angst hier in diesem Haus, das jetzt ihr gehörte. Nicht tagsüber, aber sobald die Nacht hereinbrach. Obwohl auch Sandra im Haus war, außerdem Hugo und jetzt auch Annie, wachte sie manchmal um zwei oder drei Uhr nachts auf, um dann mit pochendem Herzen im Bett zu liegen und zu lauschen. Worauf? Nun, das wusste sie selbst nicht. Sie wusste nur, dass sie plötzlich Angst hatte.
Sie erinnerte sich noch gut
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