Vergangene Schatten
sanftmütig - außer zu Hugo natürlich - und, davon war Carly überzeugt, auch dankbar, dass man sie von ihrem harten Leben gerettet hatte. Sandra konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Hund dankbar sein konnte, doch für Carly stand fest, dass Annie tatsächlich dankbar war für das neue Zuhause, für die tägliche Nahrung und ganz besonders für die Liebe, die man ihr schenkte. Carly war mit ihr zum Tierarzt gegangen, der sie gegen alles Mögliche impfte. Der Arzt schätzte ihr Alter auf fünf Jahre und meinte, dass Annie wahrscheinlich schon seit längerem herumstreunte, dass sie aber im Großen und Ganzen gesund sei, abgesehen davon, dass sie unterernährt war. Außerdem stellte er eine relativ frische Schnittwunde zwischen den Vorderbeinen fest, die sich zum Glück nicht infiziert habe und gut verheile. Nachdem Carly sie gebadet, gebürstet und von Flöhen befreit hatte, war Annie ein ganz anderer Hund als vorher.
Man konnte sie fast als hübsch bezeichnen; jedenfalls fand Carly sie richtig süß.
»Was für ein braves Mädchen du bist, Annie«, sagte Carly anerkennend, als Annie ohne auch nur zu winseln zusah, wie Hugo seinen Schinken zuerst ableckte, ehe er ihn vor den neidvollen Augen des Hundes verschlang. Als der Schinken verzehrt war, wandten sich die Augen beider Tiere wieder Sandra zu, die immer noch vor dem offenen Kühlschrank stand.
Sandra nahm jedoch nur noch eine Flasche Limonade heraus und schloss dann die Kühlschranktür. Annie ließ enttäuscht den Kopf hängen, während Hugo sich hinsetzte und eine Pfote zu säubern begann.
Nachdem sie gesehen hatte, wie die beiden Tiere akzeptierten, dass auch der andere etwas von dem begehrten Schinken abbekam, fühlte sich Carly ermutigt, diese beginnende Toleranz zwischen den beiden weiter zu festigen. Sie hob Annie hoch und ging mit ihr zu Hugo hinüber.
»Seht ihr?«, sagte sie zu den beiden Tieren und streckte die Hand aus, um Hugo zu streicheln (und ihn außerdem festzuhalten, damit er nicht sofort die Flucht ergriff), während sie Annie der Katze näherte. Sie gab jedoch Acht, nicht so nahe heranzugehen, dass Hugo mit seinen scharfen Krallen Annies feuchte schwarze Schnauze hätte erreichen können. »Ihr zwei könnt doch Freunde sein. Ihr müsst nur ...«
Annie begann zu kläffen. Hugo stieß ein wütendes Zischen hervor und sauste davon. Annie wand sich in dem Bestreben, die Verfolgung aufzunehmen, was ihr jedoch verwehrt war, da Carly sie nicht losließ.
»Also, nach Freundschaft sieht mir das nicht gerade aus«, bemerkte Sandra und verließ die Küche mit einem Glas Limonade.
»Das kommt schon noch«, erwiderte Carly.
Als Carly ihr Bad in der altmodischen Wanne mit den Klauenfüßen beendet hatte, war es schon fast ein Uhr nachts. Sie zog den Pyjama an und ging, wie immer begleitet von Annie, an Sandras bereits geschlossener Zimmertür vorbei in ihr eigenes Zimmer. Es hatte sich kaum verändert, seit sie als Kind hier gelebt hatte. Die Tapete mit den Lavendelzweigen und die hauchdünnen weißen Vorhänge, die sie sich zu ihrem fünfzehnten Geburtstag von ihrer Großmutter gewünscht hatte, waren ebenso noch da wie der pastellfarbene Teppich am Fußende des Bettes. Und auch das Bett selbst war noch das alte, abgesehen von der Tagesdecke aus weißer Chenille, die die Decke ihrer Jugend ersetzte, welche mit einer ganzen Herde von Einhörnern verziert war. Als Kind hatte sie sich stets sicher in diesem Zimmer gefühlt. Sie bedauerte, dass das im Moment nicht der Fall war. Doch heute Nacht fühlte sie sich einigermaßen sicher, nachdem die Alarmanlage eingeschaltet war und Hugo auf dem Bett schlief, während Annie es sich nach einem sehnsuchtsvollen Blick auf Hugos privilegierte Position auf dem Teppich beim Bett bequem machte. Es half auch, dass sie todmüde war - zu müde, wie sie hoffte, um irgendwelche Albträume zu haben. Was sie ebenfalls ablenkte, war die Tatsache, dass ihre Gedanken, nachdem sie das Licht ausgeschaltet hatte, ausschließlich mit Matt zu tun hatten. Sie sah ihn vor sich, wie er mit einem provozierenden Lächeln über ihre Baseballmütze witzelte und wie er vor ihr stand, nachdem sie ihm die Zitronenlimonade über den Kopf gegossen hatte. Und dann natürlich, wie er sie küsste ...
Nein, nein, nein. Das ging nun entschieden zu weit. An solche Dinge durfte sie nicht einmal denken. Am besten, sie schloss Matt überhaupt aus ihren Gedanken aus. Und während in ihrem Kopf noch weitere unwillkommene
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