Vergangene Zukunft
Ich brauche Sie, wie einst Thisbe ihren Pyramus.«
Noch immer wich Nitely zurück und blickte sich hastig um, ob vielleicht jemand diese ungewöhnliche Erklärung gehört hatte. Aber niemand schien ihn zu beachten. Soweit er vernehmen konnte, war die Luft erfüllt von Erklärungen ähnlicher Art, und manche waren sogar noch entschiedener und direkter.
Sein Rücken stieß gegen eine Wand, und Alice kam ihm so nahe, daß das Vier-Finger-Gesetz sich in Nichts auflöste. Sie brach sogar das Kein-Finger-Gesetz.
»Miß Sanger, bitte!« sagte Nitely bestürzt.
»Miß Sanger? Ich bin Miß Sanger für Sie?« rief Alice leidenschaftlich. »Mr. Nitely! Nicholas! Mach mich zu deiner Alice! Heirate mich!«
Von allen Seiten kamen nun die Rufe »Heirate mich! Heirate mich!«, und junge Männer und Mädchen drängten sich um Nitely, denn sie wußten, daß er Friedensrichter war.
»Trauen Sie uns, Mr. Nitely!« schrien Sie »Trauen Sie uns!«
Er konnte nur zurückschreien: »Ich muß erst einmal die Heiratslizenzen einholen!«
Sie traten zurück, um ihn seine Aufgabe erfüllen zu lassen. Nur Alice folgte ihm.
Nitely traf Alexander an der Balkontür und drängte ihn wieder hinaus in die frische Luft. Im selben Augenblick gesellte sich Professor Johns zu der kleinen Gruppe.
»Alexander! Professor Johns«, sagte Nitely erregt. »Etwas äußerst Ungewöhnliches ist geschehen …«
»Ja«, erwiderte der Professor, und sein sanftes Gesicht strahlte vor Freude. »Das Experiment war ein voller Erfolg. Das Prinzip läßt sich viel wirkungsvoller auf Menschen anwenden als auf meine Versuchstiere.« Er bemerkte Nitelys Verwirrung und erklärte ihm in kurzen Zügen, was geschehen war.
Nitely hörte zu und murmelte: »Seltsam, seltsam. Ich weiß nicht, wieso, aber das kommt mir bekannt vor …« Er preßte beide Fäuste an die Stirn, aber es half nichts.
Alexander trat zu Alice. Er sehnte sich danach, sie an seine starke Brust zu pressen, wenn er auch wußte, daß kein Mädchen von guter Erziehung an einem solchen Gefühlsausdruck Gefallen finden konnte, wenn sie dem betreffenden Mann noch nicht verziehen hatte.
»Alice, mein verlorenes Lieb, wenn in deinem Herzen nur eine Spur von Großmut ist …«
Aber sie wich vor seinen Armen zurück, die sich ihr flehend entgegenstreckten.
»Ich habe den Punsch getrunken, Alexander. Es war dein Wunsch.«
»Aber du hättest es doch nicht tun müssen! Es war falsch, ganz falsch!«
»Aber ich habe es getan. Oh, Alexander, ich kann nie mehr die Deine sein.«
»Nie mehr die Meine? Was soll das heißen?«
Und Alice ergriff Nitelys Arm, umklammerte ihn voller Glut.
»Mein Herz gehört für alle Zeit Mr. Nitely, ich meine, Nicholas. Meiner Leidenschaft für ihn, meiner Sehnsucht, seine Frau zu werden, kann ich nicht widerstehen. Er ist mein Leben.«
»Du bist treulos?« schrie Alexander ungläubig.
»Wie grausam von dir, dies treulos zu nennen«, sagte Alice schluchzend. »Ich kann nichts dagegen tun.«
»Nein, sicher nicht«, sagte Professor Johns, der höchst konsterniert zugehört hatte, nachdem er Nitely die Sachlage erklärt hatte. »Sie kann kaum etwas dagegen tun. Es ist ganz einfach eine endokrinologische Erscheinung.«
»Sicher ist das so«, sagte Nitely, der mit seinen eigenen endokrinologischen Erscheinungen zu kämpfen hatte. »Es ist ja gut, mein Liebes.« Er strich in beinahe väterlicher Weise über Alices Haar. Und als sie ihr reizendes Gesicht zu ihm erhob, einer Ohnmacht nahe, überlegte er, ob es nicht eine ebenso väterliche Geste wäre – nein, eher eine freundschaftliche –, auf diese Lippen seine eigenen zu pressen.
Aber Alexander schrie in seines Herzens tiefster Verzweiflung: »Du bist treulos – treulos wie Cressida!« und rannte aus dem Saal.
Und Nitely wäre ihm gefolgt, wenn nicht Alice die Arme um seinen Hals gelegt und auf seine langsam schmelzenden Lippen einen Kuß gedrückt hätte, der keineswegs töchterlich war.
Er war nicht einmal freundschaftlich.
Sie kamen vor Nitelys kleinem Junggesellenhäuschen an. Ein keusches Schild hing über der Tür. Darauf stand in alten englischen Lettern »Friedensrichter«. Das Häuschen verströmte eine Atmosphäre von Melancholie und zugleich friedvoller Ruhe. Rasch setzte Nitelys linke Hand den kleinen Teekessel auf den kleinen Herd. (Seinen rechten Arm umklammerte immer noch Alice. Mit einem Scharfsinn, der weit über ihre Jahre hinausging, hatte sie erkannt, daß nur unerbittliche Ausdauer das Unmögliche
Weitere Kostenlose Bücher