Vergeben, nicht vergessen
sehr erleichtert darüber, dass Emma sich ihrer Stimme erinnert hat. Sie haben eine schwierige Zeit hinter sich. Es muss schwer gewesen sein, von Ort zu Ort zu ziehen und ihr Bild herumzuzeigen.«
»Eigentlich nicht. Außer den örtlichen Polizeibehörden waren alle sehr freundlich. Fast überall haben sie mich wie eine hysterische Frau behandelt, mir ein wenig überheblich auf die Schulter geklopft und dass ich die Sache doch ihnen, den tollen Typen, überlassen sollte. In Rutland hätte ich einen Typen fast geschlagen. Als ich endlich Ihre Hütte gefunden hatte, habe ich lange über mein Vorgehen nachgedacht. Ich weiß genug über Urteilsvollstreckungen, um zu wissen, dass, wenn ich den Entführer nur gefangen nehmen würde, er vermutlich schon bald gegen Kaution entlassen würde. Würde er Emma nochmals nachstellen? Nehmen wir einmal an, der Richter würde eine Kaution ablehnen und ihn in Untersuchungshaft behalten, ihn schließlich sogar verurteilen. Früher oder später würde er wieder freikommen und entweder anderen Kindern oder Emma erneut nachstellen. Für den Rest meines Lebens müsste ich in Angst leben. Und Emma auch, was noch schlimmer wäre. Ein Kinderschänder, ein Entführer. Ein solches Ungeheuer hat kein Recht zu leben.«
Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Wenn Sie dieses Ungeheuer gewesen wären, hätte ich Sie zumindest verwundet. Auf diese Weise wären Sie nicht gegen Kaution freigekommen, sondern in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Vielleicht hätte man dort Ihre Medikamente verwechselt, und mit etwas Glück wären Sie gestorben.«
Er trank den letzten Tropfen Kaffee und hob die Augenbrauen. »Sonderlich viel Vertrauen in unser Rechtssystem haben Sie ja nicht gerade.«
»Nein, nicht das Geringste. Selbst wenn das Rechtssystem nicht vollkommen verbogen wäre, wird es durch Haftverschonungsgesuche derart unterwandert, dass Haftverschonungsabkommen die einzige Möglichkeit bieten, Kriminelle auf Trab zu halten. Aber warum erzähle ich Ihnen das! Für Sie als Richter gehört das zum Tagesgeschäft.
Sie wissen doch selbst, dass dieser Typ, selbst wenn er gefasst würde, seine Haftzeit auf sieben Jahre herunterhandeln kann und dann nach drei Jahren auf freien Fuß gesetzt wird. Das ist zwar nicht gerecht, aber die Prozessanwälte werden keinerlei Veränderungen zulassen. Die Gerechtigkeit ist ihnen gleichgültig, sie wollen nur so viel Geld wie nur irgend möglich herausschlagen. Dann konzentrieren sie all die Aufmerksamkeit auf den armen Täter und wie schlimm seine Kindheit gewesen ist, als ob das eine Entschuldigung für dessen Brutalität wäre. Es ist einfach nicht richtig. Sie sind Teil dieses Systems. Sie wissen, dass es nicht richtig ist.«
Freundlich entgegnete er: »Nein, es ist nicht richtig. Doch keiner will Kriminelle auf freiem Fuß sehen. Die meisten von uns bemühen sich sogar sehr darum, dass sie in den Gefängnissen bleiben.« Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal kommt es aber auch vor, dass falsche Entscheidungen getroffen werden.«
»Und das sagen ausgerechnet Sie.«
Er zuckte die Schultern. »Meiner Ansicht nach kann sich niemand über einen längeren Zeitraum hinweg seinem eigentlichen Selbst entziehen.«
»Sie sagten, Sie wären hierher gekommen, um sich zu verstecken.«
Unangenehm berührt blickte er sie an. »Die Dinge sind aus dem Ruder gelaufen. Ich bin hierher gekommen, um mich wieder zu sammeln und den Leuten Gelegenheit zu geben zu vergessen. Das wird sicherlich schon sehr bald der Fall sein.«
»Sie sind Bundesrichter. Sicher kennen Sie viele Leute. Sie müssen an das System glauben. Warum also haben Sie Emma nicht sofort der Polizei übergeben? Oder in ein Krankenhaus gebracht?«
»Ich konnte es nicht tun«, erwiderte er unumwunden. »Ich konnte es einfach nicht. Sie war vollkommen verängstigt. Die Vorstellung von lauter fremden Menschen um sie herum konnte ich einfach nicht ertragen.« Sein Blick fiel auf seine Turnschuhe. »Außerdem habe ich mir Sorgen gemacht, dass ihr dasselbe noch einmal passieren würde, wenn sie wieder nach Hause käme.«
Sie musterte ihn lange und nickte dann bedächtig. »Ich an Ihrer Stelle hätte sie auch nicht irgendwelchen Fremden überlassen. Und nach Hause hätte ich sie auch nicht geschickt, solange ich nicht gewusst hätte, dass sie dort gut beschützt sein würde. Danke, dass Sie ihr Schutz geboten haben. Sie ist mir der wichtigste Mensch auf der ganzen Welt. Ich bin mir nicht sicher, wie ich hätte
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