Vergeben, nicht vergessen
weil sie offenbar eine Entscheidung gefällt hatte. Lächelnd wandte sie sich an Emma: »Schau mal dort, Em. Das ist die Insel Alcatraz. In den fünfziger Jahren war das ein Gefängnis für besonders schlimme Verbrecher.«
»Sie sieht hübsch aus. Dort gefangen zu sein würde mir nichts ausmachen.«
»Ich habe gelesen, dass sie den Gefangenen ungefähr sechstausend Kalorien am Tag zu essen gegeben haben, damit sie fett wurden und es nicht sehr wahrscheinlich war, dass sie fliehen und an Land schwimmen konnten. Ich glaube, sie haben jede Menge Hot Dogs und Bohnen bekommen. Man hat ihnen nur wenig körperliche Bewegung gestattet.«
Emmas Augen leuchteten auf.
Er grinste sie über den Rückspiegel an. »Sie haben sie aber nicht auf Drahtbügeln über dem Feuer gegrillt, Emma. Sie wurden gekocht.«
»Igitt.«
Ramsey fuhr auf dem Scenic Drive in den schönen alten Stadtteil Sea Cliff. »Unsere Häuser stehen direkt an der Bucht. Meines ist die Nummer siebenundzwanzig, ganz am Ende.«
»Ich wusste zwar, dass Bundesrichter recht gut entlohnt werden, aber so gut nun wieder auch nicht. Das Haus muss eine Stange gekostet haben, Ramsey.«
»Es ist ziemlich viel wert, aber ich habe es nicht gekauft, sondern von meinen Großeltern zusammen mit einer netten Summe geerbt. Ich bin nicht so reich wie du, aber verhungern muss ich nicht. Der Ausblick ist einfach unglaublich. Wir kommen wieder hierher, Emma, und dann grillen wir. Wir können im Garten sitzen und beobachten, wie der Nebel hereinkommt. Er schwebt durch die Golden Gate Bridge wie weiche weiße Finger. Nebel mochte ich schon immer gern. Es gibt sogar ein Klavier hier für dich, einen alten Stutzflügel, auf dem mein Großvater gespielt hat. Er war ein wunderbarer alter Herr.«
Sowie Ramsey die Haustür aufgeschlossen und in den gefliesten Flur getreten war, rümpfte er die Nase. Es roch nach verfaulten Lebensmitteln, doch das war eigentlich unmöglich. Er ging ins Wohnzimmer, trat jedoch augenblicklich einen Schritt zurück.
Das Zimmer war verwüstet worden. Seine teure Stereoanlage war herausgerissen und zertrampelt worden. Auf dem Parkett verstreut lagen überall CDs. Alle Möbel waren aufgeschlitzt. Benommen ging er in die Küche. Der Gestank war betäubend.
Der Kühlschrank stand offen. Jemand hatte Essen auf dem
Boden verteilt, wenn auch nicht viel vorhanden gewesen war. Das Geschirr war zerbrochen, überall lagen Scherben herum. Schubladen waren herausgezogen, Silberbesteck lag auf dem Boden verteilt. Eine gewalttätige Hand hatte einfach alles aus den Schränken gezerrt.
»Geh hier nicht herein, Emma«, sagte er.
»O nein«, war alles, was Molly im Türrahmen sagte und Emma zurückhielt.
Binnen weniger Minuten hatte er sich vergewissert, dass der Täter nicht ein einziges Zimmer verschont hatte.
Er ging in sein Arbeitszimmer, einen prachtvoll in dunkler Eiche getäfelten Raum, der auf die Marin Headlands blickte. Sein antiker Schreibtisch mit Rollschrank war aufgebrochen worden, die Schubladen herausgezogen und zertrümmert, überall lagen seine Papiere in Fetzen zerrissen verstreut herum. Bücher lagen stapelweise zerfleddert auf dem Tabrizteppich. Sein Lieblingsledersessel war mit einem Messer aufgeschlitzt worden. Die Beine des Stutzflügels seines Großvaters waren abgesägt worden. Er lag wie betrunken auf einer Seite, die meisten Tasten waren eingetreten worden. Jemand hatte sogar die Besaitung durchtrennt.
Zerstörung überall.
Wonach hatten sie gesucht? Nach etwas, was eine Verbindung zwischen ihm einerseits und Molly und Emma andererseits herstellte?
»Es tut mir Leid, Ramsey«, flüsterte sie neben ihm. »Es tut mir wirklich sehr Leid. Das haben wir dir eingebrockt.«
Plötzlich begriff er die Tragweite dessen, was sie eben gesagt hatte. Langsam drehte er sich um, nahm ihren Oberarm zwischen seine großen Hände und sagte: »Ich habe mich auch gleichermaßen bemitleidet und entrüstet. Aber jetzt, nachdem du das gesagt hast, merke ich, dass dieses Haus, ganz gleich, wie schön es auch sein mag, doch immer nur ein Haus ist. Wenn wir denjenigen schnappen, der hierfür verantwortlich ist, freue ich mich darauf, ihn zur Rede zu stel-len. Emma aber bedeutet mir mehr als ein Haufen belangloser Besitztümer. Das lässt sich nicht vergleichen. Verstehst du, was ich sage, Molly?«
Sie nickte. »Ich begreife nur nicht, weshalb jemand so etwas tun würde. Sie hätten alles durchsuchen können, wenn sie nach einer Verbindung zwischen uns gesucht
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