Vergebung
Die Bestandteile der Gleichung, die sie vor sich in der Luft konstruiert hatte, stürzten zu Boden. Sie hörte es so laut scheppern, dass ihr die Ohren schmerzten.
Peter Teleborian stand eine Minute lang still und betrachtete sie, bevor er ihr gegenüber Platz nahm. Sie starrte jedoch weiter die Wand an.
Nach einer Weile ließ sie den Blick zu ihm wandern und sah ihm in die Augen.
»Es tut mir leid, dass du in so eine Situation geraten bist«, begann Teleborian. »Ich werde auf jede mögliche Art versuchen, dir zu helfen. Ich hoffe, wir können ein Vertrauensverhältnis aufbauen.«
Lisbeth musterte jeden Zentimeter an ihm. Das zottelige Haar. Den Bart. Die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Die dünnen Lippen. Die braune Jacke. Das Hemd, das oben offen stand. Sie hörte seine sanfte und verräterisch freundliche Stimme.
»Ich hoffe auch, dass ich dir diesmal besser helfen kann als bei unserer letzten Begegnung.«
Er legte einen kleinen Notizblock und einen Stift auf den Tisch. Lisbeth senkte den Blick und betrachtete den Stift. Er war silbern und spitz.
Konsequenzenanalyse.
Sie unterdrückte den Impuls, die Hand auszustrecken und den Stift an sich zu reißen.
Ihre Augen suchten seinen linken kleinen Finger. Dort sah sie einen schwachen weißen Rand an der Stelle, wo sie vor fünfzehn Jahren ihre Zähne hineingeschlagen und die Kiefer so zusammengepresst hatte, dass sie ihm fast den Finger abgebissen hätte. Drei Wärter waren nötig, um sie festzuhalten und ihre Kiefer auseinanderzureißen.
Damals war ich ein kleines, verängstigtes Mädchen, das gerade erst ins Teenageralter gekommen war. Jetzt bin ich erwachsen. Wenn ich will, kann ich dich töten.
Sie blickte starr geradeaus, sammelte die Zahlen und mathematischen Symbole auf, die ihr vorher zu Boden gefallen waren, und setzte die Gleichung wieder zusammen.
Dr. Peter Teleborian betrachtete sie mit neutralem Gesichtsausdruck. Er war nicht zum international anerkannten Psychiater geworden, weil es ihm an Einsichten in die menschliche Psyche mangelte. Er war gut darin, Gefühle und Stimmungen zu erspüren. Im Moment spürte er zum Beispiel, wie ein kühler Schatten durch den Raum zog, aber er deutete das als Zeichen dafür, dass die Patientin Angst und Scham hinter ihrem ungerührten Äußeren verbarg. Das nahm er als positives Zeichen, sie reagierte also doch auf seine Gegenwart. Überdies war er zufrieden, dass sie ihr Verhalten nicht geändert hatte. Die schaufelt sich im Gerichtssaal doch ihr eigenes Grab.
Erika Bergers letzte Amtshandlung bei der SMP bestand darin, sich in den Glaskasten zu setzen und eine Hausmitteilung an die Mitarbeiter zu schreiben. Sie war ziemlich aufgewühlt, als sie zu schreiben begann, und wider besseres Wissen füllte sie zunächst zwei ganze A4-Seiten, auf denen sie erklärte, warum sie bei der SMP aufhörte und wie sie zu gewissen Personen stand. Schließlich löschte sie den gesamten Text und begann noch einmal in einem sachlicheren Ton.
Sie nannte Peter Fredriksson nicht beim Namen. Wenn sie das tat, würde sich alles Interesse auf ihn konzentrieren, und die wahren Gründe würden neben der aufsehenerregenden sexuellen Belästigung untergehen.
Sie gab zwei Gründe an. Der wichtigste war der, dass sie in der Konzernspitze auf massiven Widerstand gestoßen war, als sie vorschlug, dass leitende Angestellte und Eigentümer ihre Gehälter und Prämien selbst kürzen sollten. Stattdessen habe man sie zwingen wollen, ihre Zeit bei der SMP mit einem signifikanten Personalabbau zu beginnen. Damit hatte man nicht nur die Versprechen gebrochen, die man ihr anfangs gegeben hatte, sondern es war ihr auch unmöglich, an einer langfristigen Veränderung und Stärkung der Zeitung zu arbeiten.
Der zweite Grund waren die Enthüllungen über Borgsjö. Sie erklärte, dass man ihr befohlen hatte, die Geschichte zu vertuschen, was sich jedoch nicht mit ihrem Berufsethos vereinbaren lasse. Das bedeutete aber auch, dass sie keine Wahl hatte und die Redaktion verlassen musste. Sie schloss mit der Feststellung, dass die SMP kein Personalproblem, sondern ein Führungsproblem habe.
Nachdem sie die Hausmitteilung noch einmal durchgelesen und einen Tippfehler korrigiert hatte, mailte sie sie an sämtliche Mitarbeiter des Konzerns. Eine Kopie schickte sie an eine journalistische Fachzeitschrift und an die Gewerkschaftszeitung. Dann packte sie ihren Laptop ein und ging hinaus zu Anders Holm.
»Machen Sie’s gut«, sagte
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