Vergebung
die Schuldgefühle überfielen oder er seiner Frau alles gestehen wollte. Sie hatte ihm eine Viertelstunde den Rücken zugedreht und zugehört, bis sie irgendwann die Augen verdrehte, sich zu ihm umdrehte und sich rittlings auf ihn setzte.
»Meinst du, du könntest jetzt einen Moment Pause machen mit deinen Ängsten und mich noch mal befriedigen?«, fragte sie.
Jeremy MacMillan war eine ganz andere Geschichte. Er übte null erotische Anziehungskraft auf sie aus. Er war ein Gauner. Witzigerweise sah er Dieter ziemlich ähnlich. Er war 48 Jahre alt, charmant, leicht übergewichtig und hatte ergrauendes, dunkelblondes, nach hinten gekämmtes Haar. Dazu trug er eine dünne Brille mit Goldfassung.
Früher war er einmal ein in Oxford ausgebildeter Wirtschaftsjurist und Investmentberater in London gewesen. Seine Zukunft hatte strahlend ausgesehen. Er war Teilhaber einer Anwaltskanzlei, die für große Unternehmen und neureiche Yuppies arbeitete, die im Geld nur so schwammen. Man kaufte Immobilien und versuchte, so wenig Steuern wie irgend möglich zu zahlen. So hatte MacMillan die fröhlichen 80er-Jahre mit neureichen Promis verbracht, gesoffen wie ein Loch und Kokain geschnupft mit Leuten, mit denen er eigentlich am nächsten Morgen gar nicht gemeinsam aufwachen wollte. Zwar war er nie angeklagt worden, aber er hatte seine Frau und seine beiden Kinder verloren und war gefeuert worden, als er seine Aufgaben nicht mehr zufriedenstellend erledigte und dann auch noch betrunken bei einem Schlichtungsverfahren aufgetaucht war.
Ohne groß nachzudenken, war er beschämt aus London geflohen. Warum er sich ausgerechnet für Gibraltar entschieden hatte, wusste er nicht, aber 1991 hatte er sich hier mit einem ortsansässigen Anwalt zusammengetan und in einer Nebenstraße eine anspruchslose Kanzlei eröffnet, die sich offiziell mit wesentlich weniger glamourösen Nachlassverwaltungen und Testamentsangelegenheiten befasste. Im Stillen beschäftigte sich MacMillan & Marks auch mit der Einrichtung von Briefkastenfirmen, die sie dann für diverse obskure Gestalten in ganz Europa verwalteten. So schlugen sie sich durch, bis Lisbeth Jeremy MacMillan auswählte, ihre 2,4 Milliarden Dollar zu verwalten, um die sie den Großindustriellen Hans-Erik Wennerström und sein zerfallenes Imperium betrogen hatte.
MacMillan war zweifellos ein Gauner. Aber sie betrachtete ihn als ihren Gauner, und er war im Grunde selbst überrascht gewesen, wie tadellos ehrenhaft er sich ihr gegenüber verhielt. Beim ersten Mal hatte sie ihn für einen ganz einfachen Auftrag engagiert. Gegen eine bescheidene Summe hatte er ein paar Briefkastenfirmen eingerichtet, in denen sie eine Million Dollar unterbrachte. Dabei hatte sie die ganze Zeit nur telefonischen Kontakt mit ihm gehabt und war nichts als eine anonyme Stimme. Er fragte nie nach, woher das Geld kam, sondern machte, worum sie ihn bat, und stellte ihr dafür 5 Prozent der Gesamtsumme in Rechnung. Wenig später hatte sie ihm eine größere Summe anvertraut, mit der er eine Firma namens Wasp Enterprises gründen sollte, die dann eine Immobilie in Stockholm kaufte. Damit war der Kontakt zu Lisbeth Salander lukrativ geworden, auch wenn es für ihn eher um Kleingeld ging.
Zwei Monate später besuchte sie ihn plötzlich auf Gibraltar. Sie rief ihn an und schlug ein privates Abendessen auf ihrem Zimmer in The Rock vor, das nicht das größte, wohl aber das traditionsreichste Hotel auf der Klippe war. Er war sich nicht sicher, was er eigentlich erwartete, aber er hätte bestimmt nicht gedacht, dass seine Mandantin ein puppenhaftes Mädchen sein würde, das aussah, als wäre es gerade erst in die Pubertät gekommen. Daher meinte er zuerst, das Opfer eines bizarren Scherzes zu sein.
Doch dann revidierte er seine Meinung bald. Das seltsame Mädchen redete unbekümmert mit ihm, ohne jemals zu lächeln oder ein einziges Zeichen persönlicher Wärme zu zeigen. Oder auch Kühle. MacMillan saß völlig paralysiert vor ihr, nachdem sie in wenigen Minuten seine ganze berufliche Fassade weltgewandter Respektabilität eingerissen hatte, die er sonst so sorgfältig aufrechterhielt.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Ich habe ziemlich viel Geld gestohlen«, erklärte sie todernst. »Und ich brauche einen Gauner, der es für mich verwaltet.«
Er fragte sich, ob sie noch ganz richtig im Kopf war, spielte das Spiel aber brav mit. Immerhin war sie ein potenzielles Opfer, durch das man sich mit ein wenig Geschick ein kleines
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