Vergebung
auf einen Barhocker ganz hinten am Tresen und lehnte sich gegen die Wand. Und dann versenkte sie eine beträchtliche Menge an Bier oder Whisky.
Wenn sie Bier trank, kümmerte sie sich nicht groß um die Marke. Sie nahm einfach, was er zapfte. Wenn sie Whisky bestellte, wählte sie immer Tullamore Dew. Nur einmal musterte sie die Flaschen hinter der Theke und schlug einen Lagavulin vor. Als sie das Glas bekam, schnupperte sie daran. Sie zog die Brauen hoch und nahm einen winzigen Schluck. Dann stellte sie das Glas ab und starrte es eine Minute lang mit einem Gesichtsausdruck an, der verriet, dass sie den Inhalt als bedrohlichen Feind sah.
Schließlich schob sie das Glas beiseite und sagte Harry, er solle ihr etwas geben, womit man keine Boote teeren könne. Da goss er ihr wieder einen Tullamore Dew ein, und sie trank weiter wie zuvor. In den letzten vier Tagen hatte sie ganz allein fast eine Flasche geleert. Beim Bier hatte er nicht mitgezählt. Harry war, gelinde gesagt, verblüfft, dass ein so schmächtiges Mädchen so viel in sich hineinschütten konnte, aber er dachte sich, wenn sie Hochprozentiges trinken wollte, dann würde sie das sowieso tun, ob es nun in seiner Bar war oder woanders.
Sie trank langsam, sprach mit niemandem und machte keinen Ärger. Abgesehen von ihrem Alkoholkonsum bestand ihre einzige Beschäftigung darin, dazusitzen und mit einem Palm herumzuspielen, den sie ab und zu an ein Handy anschloss. Ein paarmal hatte er versucht, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, stieß aber nur auf mürrisches Schweigen. Sie schien jede Gesellschaft zu meiden. Ein paarmal, als zu viele Leute in der Bar waren, hatte sie sich nach draußen gesetzt, und bei anderen Gelegenheiten war sie zu einem italienischen Restaurant zwei Häuser weiter gegangen, um dort zu Abend zu essen, woraufhin sie wieder zu Harry zurückkam und sich mehr Tullamore Dew bestellte. Meist verließ sie die Bar gegen zehn Uhr abends und torkelte in Richtung Norden davon.
An diesem Tag hatte sie jedoch mehr und schneller als an den Tagen zuvor getrunken, und Harry fing an, sie im Auge zu behalten. Nachdem sie das siebte Glas Tullamore Dew geschluckt hatte, beschloss er, ihr für heute keinen Alkohol mehr auszuschenken. Doch bevor er seinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, hörte er, wie sie geräuschvoll zu Boden fiel.
Er stellte das Glas ab, das er gerade abtrocknete, ging um die Theke herum und half ihr auf die Beine. Sie sah beleidigt aus.
»Ich glaube, Sie haben erst mal genug gehabt«, sagte er.
Sie sah ihn mit verschwommenem Blick an.
»Ich glaube, Sie haben recht«, antwortete sie mit überraschend klarer Stimme.
Sie hielt sich mit einer Hand am Tresen fest, fummelte ein paar Geldscheine aus ihrer Brusttasche und wankte auf den Ausgang zu. Er fasste sie sanft bei der Schulter.
»Warten Sie mal. Was halten Sie davon, jetzt ins Bad zu gehen, den letzten Whisky wieder auszuspucken und dann noch ein wenig an der Bar sitzen zu bleiben? Ich möchte Sie nicht gern in diesem Zustand gehen lassen.«
Sie protestierte nicht, als er sie ins Bad führte. Wie er vorgeschlagen hatte, steckte sie sich den Finger in den Hals. Als sie wieder an die Bar kam, hatte er ihr schon ein großes Glas Mineralwasser hingestellt. Sie trank das ganze Glas aus und rülpste. Er schenkte ihr noch eines ein.
»Morgen wird’s Ihnen ganz schön beschissen gehen«, meinte Harry.
Sie nickte.
»Es geht mich ja nichts an, aber wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt mal ein paar nüchterne Tage einlegen.«
Sie nickte wieder. Dann ging sie zurück ins Bad und übergab sich noch einmal.
Sie blieb noch eine Stunde in »Harry’s Bar«, bis ihr Blick wieder so klar war, dass Harry es wagte, sie gehen zu lassen. Auf wackligen Beinen verließ sie die Bar, ging zum Flugplatz hinunter und lief auf der Mole am Strand entlang. Dort ging sie spazieren, bis es halb neun war und die Erde aufgehört hatte, unter ihren Füßen zu schwanken. Erst dann kehrte sie ins Hotel zurück. Sie ging in ihr Zimmer, putzte sich die Zähne und wusch sich das Gesicht. Dann zog sie sich um und ging in die Hotelbar, wo sie sich eine Tasse schwarzen Kaffee und eine Flasche Mineralwasser bestellte.
Unbemerkt und schweigend blieb sie neben einer Säule sitzen und studierte die übrigen Gäste. Sie betrachtete ein circa 30-jähriges Paar, das sich leise unterhielt. Die Frau trug ein helles Sommerkleid, der Mann hielt unter dem Tisch ihre Hand. Zwei Tische weiter längs saß eine farbige
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