Vergebung
seinen 68 Kilo bei einer Körpergröße von 1 Meter 84 war er mager und zerbrechlich. Er trug ein Sakko mit Pepitamuster und eine dunkelgraue Hose. Aus seiner braunen Aktentasche zog er zwei Hemden, einen Reserveschlips und Unterwäsche, die er in die Kommode legte. Dann hängte er seinen Mantel und das Jackett auf Kleiderbügel und verstaute sie im Schrank hinter der Zimmertür.
Es war zu früh, um schon zu Bett zu gehen. Es war aber auch zu spät, als dass er sich noch zu einem Abendspaziergang aufraffen konnte. Also setzte er sich auf den obligatorischen Stuhl im Hotelzimmer und sah sich um. Er schaltete den Fernseher ein, drehte aber den Ton ab. Dann überlegte er, ob er die Rezeption anrufen und sich einen Kaffee bestellen sollte, beschloss aber, dass es dafür schon zu spät war. Stattdessen warf er einen Blick in die Minibar und goss sich eine kleine Flasche Johnny Walker mit Wasser ein. Er schlug die Zeitungen auf und las sorgfältig durch, was im Laufe des Tages über die Jagd auf Ronald Niedermann und den Fall Lisbeth Salander geschrieben worden war. Nach einer Weile zückte er ein Notizheft mit Ledereinband und machte sich ein paar Notizen.
Der ehemalige Ministerialdirektor der Sicherheitspolizei, Evert Gullberg, war 78 Jahre alt und offiziell seit vierzehn Jahren pensioniert. Aber so ist das eben mit alten Spionen. Sie sterben nie, sondern gleiten irgendwann einfach ins Schattenreich hinüber.
Kurz nach Kriegsende, als Gullberg 19 war, hatte er eine Karriere bei der Marine begonnen. Er leistete seinen Militärdienst als Seekadett ab und wurde danach an der Offiziersschule angenommen. Doch statt einer traditionellen Karriere zur See, wie er sie sich erwartet hatte, wurde er zum Nachrichtendienst der Marine nach Karlskrona beordert. Er verstand ohne Weiteres die Notwendigkeit dieses Nachrichtendienstes, der sich damit beschäftigte, was auf der anderen Seite der Ostsee vor sich ging. Dennoch empfand er die Arbeit als langweilig und uninteressant. Auf der Dolmetscherschule des Verteidigungsministeriums lernte er Russisch und Polnisch. Diese Sprachkenntnisse waren einer der Gründe, warum man ihn 1950 für die Sicherheitspolizei rekrutierte. Das war zu der Zeit, als noch der untadelig korrekte Georg Thulin die Organisation leitete. Als Gullberg dort anfing, belief sich das Gesamtbudget der Geheimpolizei auf 2,7 Millionen Kronen, und ihr Mitarbeiterstab umfasste genau neunundsechzig Personen.
Als Evert Gullberg 1992 offiziell in Pension ging, war das Budget der Sicherheitspolizei auf über 350 Millionen Kronen gestiegen, und er wusste gar nicht mehr, wie viele Angestellte die »Firma« eigentlich hatte.
Gullberg hatte sein Leben im geheimen Dienst seiner Majestät verbracht oder vielleicht im geheimen Dienst des sozialdemokratischen Staates. Was als Ironie des Schicksals zu betrachten war, da er stets konservativ gewählt hatte. Nur im Jahr 1991 hatte er eine Ausnahme gemacht, weil er Carl Bildt für eine realpolitische Katastrophe hielt. In jenem Jahr hatte er stattdessen resigniert für Ingvar Carlsson gestimmt. Die Jahre mit Schwedens bester Regierung hatten zugleich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das Kabinett von Carl Bildt hatte seinen Dienst angetreten, als die Sowjetunion zusammenbrach, und seiner Meinung nach konnte kaum eine Regierung schlechter gerüstet sein, den neuen Spionagemöglichkeiten zu begegnen, die sich nun im Osten auftaten. Vielmehr beschnitt die Bildt-Regierung die Sowjetabteilung aus wirtschaftlichen Gründen und konzentrierte sich stattdessen auf das internationale Gerangel in Bosnien und Serbien - als ob Serbien jemals eine Bedrohung für Schweden darstellen könnte! Das Resultat dieser Vorgehensweise war, dass es bald keine Möglichkeiten mehr gab, langfristig Informanten in Moskau einzuschleusen. Sollte das Klima eines Tages wieder frostiger werden - für Gullberg nur eine Frage der Zeit -, würde man wieder völlig absurde politische Forderungen an die Sicherheitspolizei und den Nachrichtendienst stellen, als könnte man dort nach Bedarf Agenten aus dem Hut zaubern. Gullberg begann seine Karriere in der Russlandabteilung der SiPo. Nach zwei Jahren am Schreibtisch machte er 1952/53 seine ersten zaghaften Schritte in der Moskauer Botschaft als Militärattaché mit Kapitänsrang. Dabei trat er in die Fußstapfen eines anderen bekannten Spions: Seinen Posten hatte nämlich ein paar Jahre zuvor der nicht ganz unbekannte Flugoffizier Stig Wennerström
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