Vergebung
einer Anwaltskollegin, Mitglied im »Netzwerk Frauen« und ehemalige Kommilitonin. Da sie sich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatten, plauderten sie erst einmal eine Weile, bevor Annika ihr Anliegen vorbrachte.
»Ich bin grade in Göteborg«, erklärte Annika. »Eigentlich wollte ich heute Abend zurückfahren, doch jetzt ist so viel passiert, dass ich über Nacht bleiben muss. Wäre es okay, wenn ich mich bei dir einlade?«
»Au ja, super, bitte lad dich bei mir ein! Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.«
»Stör ich auch bestimmt nicht?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wohn jetzt in einer Seitenstraße von der Linnégatan. Ein Gästezimmer hab ich auch. Und dann können wir noch in die Kneipe gehen und den ganzen Abend quatschen.«
»Wenn ich das noch schaffe«, meinte Annika. »Wann würde es dir denn passen?«
Sie einigten sich auf sechs Uhr.
Annika nahm den Bus zur Linnégatan und verbrachte die nächste Stunde in einem griechischen Restaurant. Sie war völlig ausgehungert und bestellte sich eine Grillplatte mit Salat. Eine ganze Weile blieb sie noch sitzen und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Obwohl ihr ein bisschen die Knie zitterten, seit ihr Adrenalinspiegel wieder gesunken war, war sie zufrieden mit sich. Als es gefährlich wurde, hatte sie effektiv und besonnen reagiert. Sie hatte instinktiv das Richtige getan. So etwas von sich selbst sagen zu können war ein schönes Gefühl.
Nach einer Weile zog sie das Filofax aus der Aktentasche und schlug die Seiten für eigene Notizen auf. Konzentriert las sie. Sie hatte so ihre Zweifel an dem, was Michael ihr erzählt hatte. Als er es ihr erklärt hatte, hörte es sich zwar logisch an, aber es gab noch einige Ungereimtheiten. Doch sie hatte nicht vor, einen Rückzieher zu machen.
Um sechs Uhr bezahlte sie und ging zu Lillians Wohnung in der Olivedalsgatan, wo sie am Tor die Nummer eingab, die ihre Freundin ihr gegeben hatte. Als sie ins Treppenhaus trat und sich nach dem Aufzug umsah, kam die Attacke wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ohne jede Vorwarnung wurde sie brutal und mit voller Kraft gegen die Wand geschleudert. Sie prallte mit der Stirn gegen die Mauer und spürte einen jähen Schmerz.
Im nächsten Moment hörte sie Schritte, die sich eilig entfernten, und dann die Haustür, die geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Sie rappelte sich hoch und fasste sich an die blutige Stirn. Was zum Teufel war das denn gewesen? Sie sah sich verwirrt um, trat auf die Straße und sah am Sveaplan gerade noch einen Rücken um die Ecke verschwinden. Verwirrt blieb sie ein paar Minuten lang stehen.
Dann begriff sie, dass ihre Aktentasche verschwunden war. Sie war überfallen worden. Erst nach ein paar Sekunden dämmerte ihr, was das bedeutete. Nein. Die Zalatschenko-Mappe. Sie spürte, wie die Schockwellen sich vom Magen her ausbreiteten. Nach ein paar zögerlichen Schritten blieb sie stehen. Es war sinnlos, dem Unbekannten hinterherzulaufen. Er war längst verschwunden.
Langsam ließ sie sich auf den Bordstein sinken.
Dann schoss sie wieder hoch und wühlte in ihrer Jackentasche. Das Filofax. Gott sei Dank. Als sie das Restaurant verließ, hatte sie es in ihre Jackentasche gesteckt und nicht in die Aktentasche. Darin befand sich der Entwurf für ihre Strategie im Fall Lisbeth Salander, Punkt für Punkt.
Sie lief zurück zum Eingang, gab den Code ein, lief die Stufen in den vierten Stock hinauf und hämmerte gegen Lillian Josefssons Tür.
Es war fast halb sieben, als Annika sich so weit erholt hatte, dass sie ihren Bruder anrufen konnte. Sie hatte einen Bluterguss und eine Platzwunde an der Augenbraue davongetragen. Lillian hatte sie mit Wundalkohol gesäubert und ein Pflaster aufgelegt. Nein, Annika wollte nicht ins Krankenhaus fahren. Ja, eine Tasse Tee hätte sie gern. Erst jetzt begann sie wieder klar zu denken. Ihre erste Maßnahme war ein Anruf bei ihrem Bruder.
Mikael Blomkvist war noch immer in der Millennium -Redaktion, wo er zusammen mit Henry Cortez und Malin Eriksson versuchte, Informationen über Zalatschenkos Mörder zu bekommen. Mit wachsender Bestürzung hörte er sich Annikas Bericht an.
»Bist du okay?«, erkundigte er sich.
»Gibt nur einen blauen Fleck. Wenn ich mich beruhigt habe, ist alles wieder okay. Aber sie haben meine Aktentasche mit der Zalatschenko-Mappe, die du mir gegeben hattest, geklaut.«
»Halb so schlimm, ich kann dir eine neue zusammenstellen.« Er hielt inne und spürte, wie sich ihm
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