Vergeltung
zum
Körpertherapeuten gemacht?«
Das Lächeln des Therapeuten erstarrte.
»Das ist an mehreren Orten im Land möglich.«
»Und wo haben Sie studiert?«
»Im Ausland«, antwortete Jens Anker und öffnete Michael die Tür.
»Wo genau?« Michael blieb in der Tür stehen, die er ganz ausfüllte.
»In Stockholm«, antwortete Jens Anker kurz angebunden, nickte ihm
zum Abschied zu und schloss die Tür.
—
Die Dämmerung umschloss
das Polizeipräsidium, als Rebekka die breite Treppe zu ihrem Büro hochstapfte.
Die gesamte oberste Etage lag im Dunkeln. Sie bediente den alten Schalter in
der Ecke, und das Büro wurde nach und nach hell. Der Fall Lene Eriksen lag noch
immer genau da auf ihrem Schreibtisch, wo sie ihn liegen gelassen hatte.
Daneben stand ein Karton aus dem Archiv. Den musste Michael ihr hingestellt
haben. Sie warf die Tüten mit den Süßigkeiten auf den Tisch und zog ihren
Mantel aus. Dann setzte sie sich gemütlich auf dem Stuhl zurecht und öffnete
den rechtsmedizinischen Bericht. Vier Farbfotos fielen auf den Boden. Sie hob
sie auf und sah sie sich genau an.
Bei dem ersten handelte es sich um
ein Gesamtbild des Tatorts. Lene Eriksen lag im Schilf des Ringkøbingfjords auf
dem Bauch. Die Arme waren zur Seite ausgestreckt, die Beine sittsam
geschlossen. Sie trug eine hellrote kurzärmlige Hemdbluse und ausgewaschene
Jeans. Die obere Hälfte der Bluse war dunkelrot von Blut. Lenes dunkelblauer
Salomon-Rucksack dümpelte am Wasserrand und die Schuhe, ein Paar weiße Kawasaki-Turnschuhe,
lagen einige Meter von der Leiche entfernt im Gras.
Das nächste Bild zeigte die Leiche in umgedrehter Position. Lene
Eriksens Augen standen weit offen und hatten einen, wie es Rebekka vorkam,
überraschten Ausdruck. Der Mund war in einem O erstarrt und ließ Rebekka an das
berühmte Bild Der Schrei von Edvard Munch denken. Ein
unbehaglicher Schauer lief ihr über den Rücken. Sie griff nach der
Matador-Mix-Tüte und schlang eine Handvoll der Süßigkeiten hinunter.
Das dritte Foto zeigte Lene Eriksens nackten Rücken. Man sah eine
Reihe tiefer Messerstiche, wie klaffende Wunden, oval und orangerot.
Das letzte Foto zeigte eine Nahaufnahme von Händen und Unterarmen
des Opfers, die zahlreiche oberflächliche Schnittwunden aufwiesen. In dem
Obduktionsbericht war von Abwehrverletzungen die Rede, und es bestand kein
Zweifel, dass Lene Eriksen Widerstand geleistet hatte.
Lene Eriksen wurde am Freitag, den 29. September 1984, um 21.18 Uhr
von einem älteren Ehepaar, das einen Abendspaziergang machte, tot aufgefunden.
Der rechtsmedizinischen Untersuchung zufolge, die Thorkild Thøgersen
durchgeführt hatte, war die junge Frau gesund, eins sechzig groß und von
zierlicher Gestalt. Der Obduktionsbericht kam zu dem Schluss, dass die neunzehnjährige
Lene Eriksen an den insgesamt sieben tiefen Messerstichen in den Rücken
gestorben war. Zwei davon waren so heftig, dass sie die Aorta durchtrennt und
zum sofortigen Tod geführt hatten. In ihrem Magen war unverdauter
Schokoladenkuchen, und einige Meter vom Tatort entfernt fand die Polizei zwei
unbenutzte rote Servietten und Kuchenkrümel, die denen in Lenes Magen glichen.
Der Polizei zufolge hatten sich Lene und ihr Mörder am Fjord getroffen, und
anscheinend war die Verabredung aus dem Ruder gelaufen. Die Mordwaffe, die nie
gefunden wurde, war vermutlich ein zwanzig Zentimeter langes Messer mit
Wellenschliff, wie es in den meisten privaten Haushalten zu finden war.
Es konnten keine forensischen Spuren am Tatort gesichert werden, und
der Mord blieb unaufgeklärt, obwohl ungefähr tausend Befragungen durchgeführt
wurden.
Der familiäre Hintergrund des Mädchens lieferte keine Anhaltspunkte.
Die Eltern waren einige Jahre zuvor geschieden worden, Lene wohnte bei ihrer
Mutter, die als Bedienung in der Kantine der Sporthalle arbeitete. Lene hatte
gerade angefangen zu studieren, arbeitete als Mädchen für alles in einem Büro
im Krankenhaus, sang die zweite Stimme im Kirchenchor und ging in der
Tanzschule zum Jazzdance.
Rebekka streckte langsam ihren schmerzenden Rücken, während es in
ihrem Kopf arbeitete. Sie stand auf, öffnete den Pappkarton und breitete
vorsichtig den Inhalt auf dem Tisch aus, unter anderem Lenes Rucksack. Rebekka
machte ihn auf. Zuunterst lag ein aus gelbem Garn gehäkelter Beutel. Sie
knöpfte ihn auf und fand eine Busfahrkarte und ein paar nicht mehr gängige kleine
Münzen darin. Außerdem war da noch ein kleines schwarzes Adressbuch mit rotem
Rand.
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