Vergeltung
aber das war bei Anna nicht ungewöhnlich. Man wusste
nie, woran man bei ihr war oder auf was sie plötzlich kommen konnte. Wie zum
Beispiel sich ein Piercing in die rechte Brustwarze machen zu lassen.« Erik
starrte einige Sekunden auf die Tischplatte, er war rot geworden. »Ich hatte
das Gefühl, dass sie sexuell sehr erfahren war, aber sie hat nie etwas von
anderen Männern erzählt, sie hat immer gesagt, dass sie nur mich liebt. Doch
wenn Sie jetzt fragen, ja, vielleicht war sie im letzten Monat doch etwas
anders. Sie hat unsere Verabredungen oft abgesagt, wollte keinen Sex mehr und
ist plötzlich nach Schweden gefahren, ganz allein, und war drei Tage weg.«
Schweden. Anna war in Schweden. Rebekka
ballte angespannt die Hände.
»Wissen Sie, was sie in Schweden gewollt hat und wo sie dort war?«,
fragte sie und versuchte, locker zu klingen.
Erik schüttelte den Kopf.
»Sie wollte mir nichts erzählen. Hat nur gesagt, dass sie Lust auf
eine Fahrt durch die schöne schwedische Landschaft hätte. Sie war ja
Halbschwedin.«
Rebekka ärgerte sich, dass Erik über Annas schwedische Herkunft
nicht mehr zu wissen schien als sie.
»Was hat sie von ihren Eltern erzählt?«, fragte sie und zeichnete
einen Kringel auf das Papier, während sie auf die Antwort wartete.
Erik rieb sich müde die Augen.
»Nicht viel. Sie fand sie wohl etwas anstrengend. Ihre Mutter
trinkt, und ihr Vater hat sich sehr um sie gekümmert, etwas zu viel, finde
ich.«
»Was meinen Sie mit zu viel?«, fragte Rebekka vorsichtig. Die
Atmosphäre im Zimmer verdichtete sich plötzlich und eine gefährliche Intensität
war zu spüren.
Erik zuckte die Schultern.
»Das ist schwer zu erklären. Er wollte immer ganz genau wissen, was
sie machte und mit wem. Und dann hat er sie immer angefasst. Ich weiß nicht …
aber er hat sie sehr gern gehabt, und wenn sie ging, musste sie ihn immer auf den Mund küssen.«
Erik sah Rebekka verlegen an, die mit angehaltenem Atem dasaß. Ein
Gefühl nahm Form an, und sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie nicht von
Anfang an ihrer Intuition vertraut hatte, was das Verhältnis zwischen Anna und
ihrem Vater anging. Sie ließ ihre Stimme bewusst unbekümmert klingen, als sie
die nächste Frage stellte: »Erik, haben Sie gerade angedeutet, dass Gert
Gudbergsen Anna sexuell missbraucht hat?«
Erik sprang vor Schreck von seinem Stuhl auf.
»Nein, er war nur sehr zärtlich zu ihr. Sie hat nie ein Wort von so
etwas gesagt, nie.«
Rebekka legte beruhigend die Hand auf Eriks Arm.
»Ganz ruhig, Erik. Hat Anna etwas davon gesagt, dass die Gudbergsens
nicht ihre leiblichen Eltern waren?«, fragte Michael, und Erik sah sie beide
verwirrt an.
»Nein, waren sie das nicht?«
Niemand antwortete, und Rebekka blätterte kurz in ihren Notizen und
sah zu ihm hoch.
»Ihr großer Bruder, Kristian, hat erwähnt, dass Sie ein autonomer
Mensch sind, einer, der seine eigenen Wege geht. Ist das richtig?«
Erik blickte sie finster an und nickte zögerlich.
»Was machen Sie anders im Gegensatz zu Ihrer Familie?«
Die Luft stand still in dem kleinen Büro. Die Gespräche und das
Klingeln der Telefone traten in den Hintergrund und bildeten einen monotonen Geräuschteppich.
»Ich glaube nicht an Gott«, antwortete er und starrte vor sich hin.
»Ich glaube nicht mehr an Gott«, wiederholte er lauter. »Schon lange nicht
mehr.«
—
Sie verabredeten, dass
Michael im Präsidium blieb, um so viel wie möglich über Annas Fahrt nach
Schweden herauszufinden, während Rebekka Gert Gudbergsen einen Besuch
abstattete. Sie beschloss, zu Fuß zum Krankenhaus zu gehen, und schlenderte die
kleinen Pflastersteinstraßen am Hafen entlang, hinauf zum Markt und zur
Fußgängerzone, an Haupt- und Busbahnhof vorbei, bis bald das Krankenhaus aus
rotem Backstein auftauchte. Sie folgte einer plötzlichen Eingebung und fuhr mit
dem Fahrstuhl zur Intensivstation hoch. Herr Larsson lag allein in einem Zimmer
und wirkte klein und verhutzelt in dem großen Krankenbett. Ein Monitor
überwachte seinen Herzrhythmus, und es ertönte ein regelmäßiges leises Piepen.
Herr Larsson war mehrmals kurz aufgewacht, um darauf wieder in einen tiefen
Schlaf zu fallen, erklärte eine freundliche Krankenschwester Rebekka. Niemand
konnte etwas über seine Chancen sagen, doch der Optimismus der Ärzte stieg,
obwohl sie ihm noch nichts von dem Tod seiner Frau erzählt hatten. Eine solche
Information konnte tödlich sein. Mit schwerem Herzen fuhr Rebekka in die
kardiologische
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