Vergeltung am Degerloch
Kopf ändern, keinen einzigen Backstein oder Grashalm bewegen wollen in einer Welt, die ihr solch köstliche Freude verschafft.« Ich brauchte nicht weiterzulesen. Das war zitabel. Ich kehrte zu dem Aufsätzchen zurück und suchte eine Stelle, wo das Zitat einzuflicken war. Das Ganze hatte nicht einmal eine halbe Stunde gedauert. Was nun?
Martha saß am Schreibtisch unter dem Urwald ihrer Pflanzen und fälschte Louises Unterschrift unter einem Absagebrief für ein Rundfunkinterview. Ihre Brüste quollen auf die Tischkante. Sie schnaufte zufrieden. Unentbehrlichkeit und Selbstherrlichkeit im Zentrum der Redaktion rundeten eine einst klassisch zur Ohnmacht erzogene Hausfrauenpersönlichkeit ab. Martha steckte den Brief in den Umschlag. Sie beleckte die Gummierung. Ihre braunen Knopfaugen in dem großflächigen Gesicht lächelten nie, auch dann nicht, wenn die Lippenstiftlippen sich spreizten. In den Augenlidern hing ein bisschen brauner Lidschatten. So schminkten sich Frauen, die Wert auf Ordnung legten.
Ich duzte mich mit ihr deshalb nicht, weil ich jedes Mal, wenn ich Marthas Küchenhände sah, an meine Mutter dachte, die mit solchen Händen so manches Mal ordentlich an mich hingelangt hatte. Sofort flutschten meine Gedanken zu Hede. Das Mutterproblem. Verdammt, wenn sie von mir forderte, dass ich wusste, wer ich war, dann hatte ich nur eine Antwort. Alles, was ich tat, war Unsinn. Aber die Einsicht schrie nicht nach Konsequenzen. Ohne Job war ich verloren. Und wenn es zum Job gehörte herauszubringen, warum Martha ihre Tochter lieber in der Psychiatrie sah als auf der Straße, dann musste das eben sein. Vielleicht hatte Gabi an jenem Sonntagabend deshalb von mir wissen wollen, wer sie war, weil Hede grundsätzlich die Selbstgewissheit ins Schwanken brachte. Wahrscheinlich hätte ich als Gabis Mutter auch was dagegen gehabt, dass meine Tochter mit dieser Vollmondpsychologin zusammenlebte.
»Kann man Gabi eigentlich im Bürgerhospital besuchen?«, erkundigte ich mich.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Martha zögerlich.
»Wie geht es ihr denn?«
Sie zuckte mit den massigen Schultern. »Sie muss wohl länger in Behandlung bleiben.« Wenn Mütter bereit waren zu akzeptieren, dass ihre Töchter in der geschlossenen Abteilung saßen, dann musste es zu Hause ordentliche Szenen gegeben haben.
»Was hat sie denn?«
»Ich verstehe nichts davon. In den letzten zwei Jahren haben wir Gabi ja kaum noch zu Gesicht bekommen. Sie hat sich völlig verändert. Ich verstehe das Kind nicht mehr. Sie ist so böse, so hasserfüllt.«
»Ist denn irgendwas vorgefallen?«
Martha schüttelte heftig den Kopf. »Ich wüsste nicht, was. Enttäuschungen gibt es immer, das ist doch normal. Ich glau be, mit ihrem Freund ist irgendetwas schief gegangen. Sie hat nie darüber geredet.«
»Wie hieß er denn?«
»Uwe. Ich glaube, er hieß Uwe.«
»Wie bitte?«
»Wir haben ihn ja nie zu Gesicht bekommen. Ich hab ihr immer gesagt, sie soll ihn uns mal vorstellen. Aber sie wollte nicht. Sie war immer so verschlossen in allem.« Martha blinzelte ein paar aufsteigende Tränen weg. »Dabei haben wir doch nur das Beste gewollt.«
In achtzig Prozent der Fälle war es nicht der unbekannte Mann auf der Straße, sondern ein guter Bekannter oder Freund, der eine Frau vergewaltigte. Aus Scham über ihre Vertrauensseligkeit gingen die Frauen oft nicht zur Polizei. Vielleicht darum hatte Gabi vehement bestritten, den jungen Mann gekannt zu haben, den sie in Notwehr erschlug. Womöglich hatte sie ihn sogar getötet, damit er sich vor Gericht nicht darauf berufen konnte, sie sei seine Freundin gewesen. Schließlich ging sie doch als Lesbe.
7
Vom Bürgerhospital, vor allem vom Dach der Schwesternschule, hatte man einen schönen Ausblick auf den Bahnhof und die Stadt. Schilder wiesen den Weg in die Psychiatrie. Im Foyer die üblichen Frauen und Männer in Bademänteln und Besucher in Winterjacken, die nach Gesprächsthemen suchten. Der Fahrstuhl war eine mit Linoleum ausgelegte Fürchterlichkeit. Die bräunlich lackierten Wände der Gänge führten direkt in die Depression. Der Gang endete an einer verschlossenen Milchglastür mit Klingel.
Dem jungen Pfleger, der aufschloss, nannte ich Gabis Namen. Er ließ mich ein. Ich erwartete irres Gelächter. Aber es war still. An den Wänden hingen Wasserfarbenbilder aus der Maltherapie. Ein Mann schlich steif den Gang entlang. Er zeigte alle Symptome der Schüttellähmung. Manche Menschen konnten nur
Weitere Kostenlose Bücher