Vergeltung
Mal.«
8
E s dämmerte schon, und er hatte immer noch nicht geschlafen. Dennoch war Jacko Vance aufgekratzt, kein bisschen müde. Er horchte auf die leisen Geräusche, mit denen der Trakt erwachte, und war glücklich bei dem Gedanken, dass dies das letzte Mal sein würde, dass er gezwungen war, seinen Tag zusammen mit so vielen anderen zu beginnen. Alle paar Minuten schaute er auf Collins’ Uhr, denn er wartete den richtigen Moment ab, aufzustehen und in den Tag zu starten. Er hatte sich in die Mentalität eines anderen Menschen hineindenken müssen. Collins wäre zwar begierig auf den Freigang, aber nicht übereifrig. Vance hatte immer einen guten Sinn für das richtige Timing gehabt. Das hatte ihn als Sportler so erfolgreich gemacht. Aber heute hing viel mehr als nur eine Medaille vom Timing ab.
Als er fand, der richtige Moment sei gekommen, stand er auf und ging zur Toilette. Er fuhr noch einmal mit dem elektrischen Rasierer über Kopf und Kinn und zog dann Collins’ schäbige Jeans und sein weites Polohemd an. Die Tattoos sahen haargenau richtig aus, fand Vance. Und die Leute sahen ja sowieso, was sie zu sehen erwarteten. Ein Mann mit Collins’ Tattoos und Klamotten musste Collins sein, solange er keine widersprüchlichen Merkmale aufwies.
Die Minuten zogen sich in die Länge. Endlich schlug eine Faust gegen die Tür, und eine Stimme rief: »Collins? Setz deinen Arsch in Bewegung, es ist Zeit.«
Als die Tür sich öffnete, war der Wärter schon abgelenkt und achtete mehr auf einen Flurstreit über die Fußballresultate vom gestrigen Abend als auf den Mann, der aus der Zelle trat.
Vance kannte den Mann, Jarvis, einer der Wärter der regulären Tagschicht, reizbar und aufbrausend, aber keiner, der jemals ein persönliches Interesse an einem seiner Kunden gezeigt hätte. So weit war also alles in Ordnung. Der Wärter warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und ging dann den Flur entlang voraus. Vance blieb zurück, während die erste Tür mit Fernbedienung entriegelt wurde, und freute sich über das laute metallische Klappern, als das Schloss aufsprang. Dann folgte er dem Beamten in die Sicherheitsschleuse und versuchte, ganz normal zu atmen, während sich die eine Tür schloss und die andere öffnete.
Und dann waren sie schon außerhalb des Trakts, kamen durch den zentralen Verwaltungsbereich der Vollzugsanstalt und näherten sich dem Ausgang. Vance versuchte, sich durch Ablenkung zu beruhigen, und fragte sich, warum jemand eine Arbeitsumgebung mit kränklich gelben Wänden und Eisenrahmen in stumpfem Grau wählte. Wollte man hier arbeiten, ohne in tiefe Depressionen zu verfallen, durfte man keinerlei visuelle Sensibilität haben.
Noch eine Sicherheitsschleuse, dann die letzte Hürde. Zwei gelangweilte Beamte saßen hinter dicken Glasfenstern wie an Bankschaltern mit Öffnungen, durch die man Unterlagen schieben konnte. Jarvis nickte dem am nächsten Sitzenden zu, einem dürren jungen Mann mit Bürstenhaarschnitt und unreiner Haut. »Ist die Sozialarbeiterin für Collins hier?«, fragte er.
Sehr unwahrscheinlich, dachte Vance. Nicht, wenn alles nach Plan gelaufen war. Kaum eine Frau würde zur Arbeit kommen, wenn sie nachts von jemandem aufgeweckt wurde, der versuchte, in ihr Haus einzubrechen. Besonders da der mutmaßliche Einbrecher/Vergewaltiger in weiser Voraussicht alle vier Reifen ihres Wagens aufgeschlitzt und ihre Telefonleitung gekappt hatte. Sie hatte Glück gehabt. Hätte er selbst den Job erledigt, statt ihn abgeben zu müssen, hätte er ihrem Hund die Kehle durchgeschnitten und ihn an die Haustür genagelt.
Aber manche Dinge konnte man nicht delegieren. Hoffentlich würde genügen, was er in die Wege geleitet hatte. Bedauerlich für den armen Jason. Er würde zu seinem Tag der vorübergehenden Freiheit antreten müssen ohne die Unterstützung von jemandem, den er kannte.
»Nein«, sagte der Mann am Schreibtisch. »Sie kommt heute nicht.«
»Was?«, meckerte Jarvis. »Was soll das heißen, sie kommt heute nicht?«
»Private Probleme.«
»Was soll ich denn mit ihm machen?« Er zeigte mit einer Kopfbewegung auf Vance.
»Ein Taxi steht bereit.«
»Er fährt in ner Taxe los? Ohne Begleitung?« Jarvis schüttelte den Kopf und zog für seine Zuschauer ein skeptisches Gesicht.
»Was macht das schon? Er verbringt doch sowieso den ganzen Tag im Resozialisierungsprogramm ohne Begleitung. Das heißt ja nur, dass er damit ein bisschen früher anfängt, sonst nichts.«
»Und was ist mit
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