Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
Vom Netzwerk:
schläft ein. Wie immer dieses Muster beschaffen sein mag, ändert es sich nur, wenn eine schwere Krise eingetreten ist.
    Dass Carol widerstandslos ihre Autoschlüssel abgab und Tony zu fahren erlaubte, war ein Zeichen dafür, wie angeschlagen sie war. Während sie eine souveräne, sichere, schnelle Fahrerin war, war er nervös, zögernd und inkonsequent. Das Autofahren war ihm nie zur zweiten Natur geworden. Er musste immer noch über die verschiedenen Handgriffe nachdenken, und da er sehr leicht durch Gedanken an Patienten und Mörder abgelenkt wurde, hatte Carol sich oft beklagt, sie fühle sich, als riskiere sie ihr Leben, wenn sie zu ihm ins Auto stieg. Heute war ihr Leben ihre geringste Sorge.
    Er stellte das Navi ein und startete in den Spätnachmittagsverkehr. Obwohl die Rezession manche der Verstopfungen auf den Hauptverkehrsstraßen der Stadt während des Feierabendverkehrs aufgelöst hatte, kamen sie doch nur langsam voran. Normalerweise hätte Carol wegen des Verkehrs geflucht und nach einer alternativen Strecke gesucht; vielleicht hätten sie so keine Zeit gespart, aber das Gefühl gehabt, nicht stillzustehen. An diesem Nachmittag starrte sie nur mit leerem Blick aus dem Fenster. Sie hatte sich in sich zurückgezogen wie ein Tier, das den tiefsten Winter verschläft und Kräfte aufbaut für die Zeit, wenn es darauf ankommt.
    Er hatte sie schon einmal so gesehen. Damals war sie vergewaltigt und brutal misshandelt, verprügelt und verletzt, geschlagen, aber nicht vollständig besiegt worden. Sie hatte sich mit genauso einem Rückzug in ihr Inneres gerettet. Monatelang hatte sie sich eingeschlossen, sich jedem Trost versagt, der nicht aus einer Flasche kam, und hatte Freunde und Familie auf Abstand gehalten hinter dem Schleier, der sie umgab. Selbst Tony mit all seiner Erfahrung war kaum in der Lage gewesen, den Kontakt mit ihr zu halten. Als er schon befürchtete, dass sie ganz abrutschen könnte, hatte ihre Arbeit sie gerettet. Sie hatte ihr etwas gegeben, für das es sich zu leben lohnte, etwas, was Tony ihr nicht hatte geben können. Es war ein weiteres Beispiel für seine zahlreichen Misserfolge, dachte er. Er hatte sie nie gefragt, ob sie das ebenso sah.
    Sie waren kaum aus Bradfield heraus, als ihr Handy klingelte. Sie schaltete es ab, ohne auch nur aufs Display zu schauen. »Ich kann mit niemandem reden«, erklärte sie.
    »Nicht mal mit mir?« Er nahm den Blick einen Moment von der Straße, um nach ihrem Gesichtsausdruck zu sehen.
    Sie hatte ihm einen Blick zugeworfen, mit dem er nichts anfangen konnte. Es hatte keinerlei Zuneigung und jede Menge eisige Stille darin gelegen. Sie schwieg und kauerte sich nur noch mehr zusammen. Tony konzentrierte sich aufs Fahren und versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen, konnte es aber nicht. Er hatte keine Geschwister und konnte sich nur vage vorstellen, wie es sein musste, den gemeinsamen Schatz der Kindheitserinnerungen zu teilen. So etwas konnte einen gegen die Welt stark machen. Es konnte auch der erste Schritt zu einer lebenslangen Reise zu gestörten Beziehungen und verkorksten Persönlichkeiten sein. Aber alles, was Carol über ihren Bruder erzählt hatte, ordnete die beiden der ersten Kategorie zu.
    In der ersten Zeit seiner Zusammenarbeit mit Carol, vor vielen Jahren, als das Profiling noch in den Anfängen steckte und sie einer seiner ersten Auftraggeber war, hatten sie und Michael sich ein Loft in einem umgebauten Lagerhaus im Herzen der Stadt geteilt. Ganz typisch für die neunziger Jahre. Tony erinnerte sich, wie Michael ihnen geholfen und seine Fachkenntnisse für die Entwicklung einer Software angeboten hatte. Ebenso erinnerte er sich an die verstörende Zeit, als er sich gefragt hatte, ob Michael selbst ein Mörder sein könnte. Glücklicherweise lag er damit vollkommen schief. Und später, als er Michael besser kannte, war es ihm peinlich, dass er einen so absurden Gedanken in Betracht gezogen hatte. Dann verstand er jedoch, dass die meisten Mörder die Menschen in ihrem Umfeld durcheinanderbrachten, und fühlte sich weniger schuldig.
    Er dachte daran, wie er Lucy zum ersten Mal getroffen hatte. Nach einem kurzen und nicht sehr glücklichen Ausflug ins akademische Leben war er nach Bradfield zurückgekommen. Carol war zurückgekehrt nach dem Trauma, das sie fast zerstört hatte. Sie war wieder in das Loft eingezogen, das Michael damals mit Lucy bewohnte. Nach fünf Minuten in ihrer Gesellschaft konnte Tony bereits verstehen, wieso Carol das

Weitere Kostenlose Bücher