Vergeltung
Rücken zu und zog ein Paar Überschuhe an.
»Ich meine wirklich, dass es keine gute Idee ist. Du würdest doch die Familie eines Opfers nicht am Tatort die Leiche sehen lassen, die Leiche von jemandem, den sie liebten.«
»Ich bin Polizistin. Ich bin daran gewöhnt.« Sie zog den Gummizug über ihren Fuß, richtete sich auf und steckte vorsichtig die Arme in die Ärmel.
»Du bist aber nicht daran gewöhnt, jemanden, den du liebst, so zu sehen. Lass zumindest mich zuerst reingehen.«
»Soll das etwa heißen, dass dich das Ganze nicht so mitnehmen wird, weil sie dir nichts bedeuten?«
»Nein, das meine ich natürlich nicht. Du wirst davon Alpträume bekommen, Carol.«
Sie hielt inne und blickte ihn direkt an. »Und welche Alpträume werde ich haben, wenn ich sie nicht selbst sehe, was meinst du? Genau deshalb, weil ich weiß, wie es an solchen Tatorten aussieht, muss ich es selbst sehen. Andernfalls wird meine Phantasie die Lücken füllen. Und wie gut werde ich dann wohl schlafen?«
Darauf hatte er keine Antwort. Sie war vor ihm mit dem Umziehen fertig und wartete nicht, sondern ging direkt los über die Metallplatten, die den Weg zum Tatort wiesen. Tony lief, um sie einzuholen, und stürzte beim Versuch, gleichzeitig den Anzug zurechtzuziehen. Bis er durch die Haustür getreten war, war sie längst im Haus verschwunden.
Der Hauptraum der Scheune sah überraschend normal aus. Lucys Jacke hing am Geländer, ihre Schuhe hatte sie gleich daneben ausgezogen. In der Nähe des Tisches befand sich ein zerknautschtes T-Shirt, und ein Rock lag ringförmig am unteren Ende der Treppe. Außer dem nach Metall und Fleisch riechenden Blutgestank gab es hier unten keine Anzeichen von Gewalt.
Tony blickte die Treppe nach oben und japste bei dem Anblick nach Luft. Die Decke oberhalb der Galerie war mit leuchtendem Rot bespritzt und mit Streifen und Flecken bedeckt. Es sah aus, als hätte jemand einen Eimer roter Farbe gegen das Dach geschleudert. »Du hast die Halsschlagadern durchtrennt«, sagte er leise. Er ging die Treppe hoch, wobei er behutsam nur auf die Schutzplatten trat.
Das Bild, das sich ihm am oberen Treppenende bot, war grotesk. Michael lag auf einem blutrot getränkten Bett auf dem Rücken. Lucy lag mit dem Gesicht nach unten neben ihm, ihr Haar war ein Netz aus klumpigem dunklem Rot. Ein weißer Streifen getrockneten Spermas lief über die untere Rückenpartie. Carol stand am Fußende des Betts, vom Hals stieg ihr die Röte ins Gesicht. Er hätte am liebsten geheult – nicht um Michael und Lucy, sondern wegen Carol.
»Dort fehlt ein Foto«, sagte sie ohne Umschweife zu dem Mann von der Spurensicherung, der sich eine Seite des Raums vorgenommen hatte. »An der Wand, dort. Man sieht die Umrisse im Blut. Es war ein Familienfoto. Michael und Lucy und ich. Und meine Mum und mein Dad. Es wurde vor zwei Jahren bei der Hochzeit meiner Cousine aufgenommen. Michael sagte, es sei das beste Foto von uns allen, das er je gesehen hätte. Er ließ für mich und unsere Eltern Abzüge machen und hängte seinen hierhin, wo das Morgenlicht darauf fiel.«
Sie drehte sich um und blickte Tony direkt an. Wegen der Maske, die sie trug, konnte er nur ihre Augen sehen, deren Grünblau von unterdrückten Tränen glänzte. »Jetzt hat der Scheißkerl Vance mein Familienfoto. Er hat mir den Bruder genommen und auch das Bild, um sich damit zu amüsieren. Entweder das oder um meine Eltern leichter aufs Korn nehmen zu können.« Ihre Stimme wurde lauter, Wut trat an die Stelle des Schocks, der sie von dem Moment an geschützt hatte, als Blake die Nachricht überbrachte.
»Das ist deine Schuld«, schrie sie ihn wütend an. »Du hast mich ja überhaupt erst in die Sache reingezogen. Es war deine Schlacht, deine und die deiner Profiling-Neulinge. Aber du hast mich reingezogen, hast mich vorgeschickt, als es darum ging, Jacko Vance zu überführen.«
Der Angriff war schockierend. Carol hatte ihn in all den Jahren, seit sie sich kannten, noch nie so beschimpft. Sie hatten sich gelegentlich gestritten, aber es war nie zu einer solchen Explosion gekommen wie jetzt. Sie hatten es immer geschafft, sich wieder vom Rande des Abgrunds zurückzuziehen. Tony hatte immer geglaubt, das läge daran, dass sie beide wussten, welche Macht sie hatten, einander zu verletzen. Aber all diese Hemmschwellen waren jetzt weg, niedergerissen als Folge von Vance’ Tat. »Du wolltest mitmachen«, sagte er schwach, wusste aber schon, als er es aussprach, dass hier
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