Vergeltung
mit einem Blick erkennen, dass er nicht antworten wollte.
»Sagen Sie mir, was passiert ist«, verlangte Carol, drehte sich um und trat direkt vor den Chief Constable. »Sie haben kein Recht, es mir zu verheimlichen.«
Blake rang die Hände. Tony hatte diesen Ausdruck schon oft gehört, aber niemals eine derart anschauliche Gebärde gesehen. »Die Fakten, die ich habe, sind sehr lückenhaft. Ihr Bruder und seine Partnerin …«
»Michael und Lucy«, sagte Carol. »Sie haben Namen. Michael und Lucy.«
Blake sah jetzt getrieben aus. »Ich bedaure das sehr. Michael und Lucy wurden von einem Einbrecher überrascht, der sie beide mit einem Messer angriff. Es muss aus heiterem Himmel gekommen sein.«
»Ist das in der Scheune passiert? Nachts?«, fragte Tony. Er war drei oder vier Mal mit Carol zum Dinner dort gewesen und konnte sich das Haus nicht als Tatort denken. Und dass sich jemand tagsüber genähert hatte, ohne entdeckt zu werden, konnte er sich nicht vorstellen.
»Wie gesagt, ich habe sehr wenige Einzelheiten. Aber die Beamten am Tatort glauben, dass das Verbrechen innerhalb der letzten Stunden geschah.«
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Carol und versuchte, die Fassung zu bewahren. Sie verschanzte sich jetzt, baute eine Wand aus Eis auf zwischen sich und dem Rest der Welt. Tony hatte früher schon einmal gesehen, wie sie sich durch eine extreme persönliche Krisensituation durchgekämpft hatte. Aber er hatte auch die Nachwirkung gesehen, als sie vollkommen zusammenbrach.
»Ich weiß es nicht, Carol. Es tut mir leid. Ich hielt es für besser, Ihnen das wenige, das ich weiß, so bald wie möglich mitzuteilen, statt auf weitere Details zu warten.« Blake blickte Tony hilfesuchend an. Aber Tony war genauso ratlos wie er. Was er da hörte, konnte er überhaupt nicht einordnen. Er fühlte sich wie betäubt, wusste aber, dass es ihn bald wie ein Schlag treffen würde. Zwei Menschen, die er gekannt hatte, waren tot. Ermordet. Und es ließ sich nicht leugnen, dass ihm der Täter wahrscheinlich bestens bekannt war.
Carol löste sich von Tony und nahm ihren Mantel vom Haken. »Ich muss da hin.«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, warnte Blake und versuchte, Autorität auszustrahlen.
»Es ist mir egal, was Sie glauben«, sagte sie. »Mein Bruder, meine Entscheidung.« Ihre Stimme versagte bei diesen Worten. Sie kam zu ihrem Aktenschrank zurück und nahm zwei Minifläschchen Wodka aus der Schublade. Eins nach dem anderen kippte sie den Inhalt hinunter, ohne innezuhalten. Als die Wirkung des Alkohols eintrat, spannten sich ihre Kiefermuskeln, und sie blinzelte heftig. Dann riss sie sich merklich zusammen und sagte: »Tony, du musst mich fahren.«
»Wenn Sie entschlossen sind zu gehen, kann ich einen Mitarbeiter abstellen, der Sie hinfährt«, sagte Blake.
»Ich möchte jemanden, den ich kenne, als Begleiter«, sagte Carol. »Tony, fährst du mich? Oder soll ich Paula fragen?«
Es war so ungefähr das Letzte, das er jetzt tun wollte. Aber das stand nicht zur Debatte. »Ich fahre dich«, sagte er.
»Natürlich werden Sie sich die Zeit nehmen, die Sie brauchen«, sagte Blake, als Carol ihren Mantel anzog und an ihm vorbeiging. Sie bewegte sich sehr vorsichtig, als erhole sie sich von einem heftigen körperlichen Angriff. Tony ging direkt hinter ihr und war nicht sicher, ob er den Arm um sie legen oder sie in Frieden lassen sollte. Paula, Chris und Sam starrten sie an, ohne ihre Verwirrung darüber zu verbergen, welche Nachricht ihre Chefin so fertigmachen konnte.
»Sagen Sie es ihnen«, empfahl Tony, über die Schulter zu Blake sprechend, als sie die Tür erreichten. »Sie müssen es wissen.« Er nickte in Richtung Chris. Wenn er das, was mit Michael und Lucy passiert war, richtig einschätzte, musste sie Kenntnis davon haben. »Besonders Chris.« Er sah den Schock auf ihrem Gesicht, hatte aber keine Zeit, darauf einzugehen. Carol war jetzt die Person, die wichtig war.
31
J edes Paar, das oft zusammen Auto fährt, entwickelt dabei ein ganz bestimmtes Verhaltensmuster. Entweder fährt nur der eine, und der andere ist immer Beifahrer, oder das Fahren wird in vorher verabredete Abschnitte unterteilt, oder einer fährt nur dann nicht, wenn er Alkohol getrunken hat. Der Beifahrer gibt Richtungsanweisungen oder hält sich raus; er kritisiert die Fahrweise entweder direkt oder indirekt, indem er den Atem anhält, wann immer sich die leiseste Möglichkeit einer Katastrophe andeutet; der Beifahrer
Weitere Kostenlose Bücher