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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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Männer erst, als sie ihn bereits aufs Korn genommen hatten. Sie traten aus den Eingangsnischen zweier nebeneinander liegender Spielwarenläden, als Bosch vorbeiging. Einer versperrte ihm den Weg. Der andere stand plötzlich hinter ihm. Bosch blieb stehen.
    »Na, Missionar«, sagte der Mann vor ihm.
    Im schwachen Schein einer hundert Meter entfernten Straßenlaterne sah Bosch unten an der Seite des Mannes eine Klinge blitzen. Er drehte sich ein Stück, um den Mann hinter sich sehen zu können. Er war kleiner. Bosch war sich nicht sicher, aber es sah so aus, als hielte er nur einen Betonbrocken in der Hand. Ein Stück vom Bordstein. Beide Männer waren in mehreren Schichten gekleidet, in diesem Teil der Stadt ein gängiger Anblick. Einer war schwarz, der andere weiß.
    »Die Küchen sind schon alle geschlossen, und wir haben noch Hunger«, sagte der mit dem Messer. »Hast du ein paar Dollar für uns? Du weißt schon, was du uns leihen kannst.«
    Bosch schüttelte den Kopf.
    »Nein, eigentlich nicht.«
    »Eigentlich nicht? Bist du da wirklich sicher, Junge? Du siehst nämlich aus, als hättest du eine fette Brieftasche dabei. Mach uns hier nichts vor.«
    In Bosch stieg Wut hoch. In einem einzigen Moment, in dem er alles ganz klar vor sich ausgebreitet sah, wusste er, was er tun könnte und würde. Er würde seine Waffe ziehen und beide über den Haufen schießen. Im selben Moment war ihm auch klar, dass der Fall nach einer kurzen polizeilichen Untersuchung zu den Akten gelegt würde. Das Blitzen der Klinge war sein Freifahrtschein. Die beiden Männer ahnten nicht, auf was sie sich da eingelassen hatten. Es war wie damals vor vielen Jahren in den unterirdischen Gängen. Mit einem Mal zählte nur noch eines: töten oder getötet werden. Diese Reduzierung auf eine Sache, in der es keine Grauzonen, keinen Platz für irgendetwas anderes gab, hatte etwas vollkommen Reines.
    Dann änderte sich die Situation plötzlich. Bosch sah, wie ihn der Kerl mit dem Messer durchdringend anstarrte und in seinen Augen las, ein Raubtier, das ein anderes taxierte. Der Kerl mit dem Messer schien um ein kaum wahrnehmbares Stück kleiner zu werden. Ohne sich konkret zurückzuziehen, machte er einen Rückzieher.
    Es gab Leute, die für Gedankenleser gehalten wurden. In Wirklichkeit lasen sie Gesichter. Ihre besondere Gabe bestand darin, die unzähligen Muskelkonstellationen von Augen, Mund und Augenbrauen zu lesen. Daraus entzifferten sie die Absicht. Bis zu einem gewissen Grad beherrschte auch Bosch diese Kunst. Seine Ex-Frau verdiente ihren Lebensunterhalt als Pokerspielerin, weil sie sie noch besser beherrschte. Auch der Mann mit dem Messer war nicht schlecht darin. Das hatte ihm diesmal definitiv das Leben gerettet.
    »Schon gut«, brummte er. »Halb so wild.«
    Er wich in den Eingang des Ladens zurück.
    »Einen schönen Abend noch, Missionar«, sagte er, als er in das Dunkel verschwand.
    Bosch drehte sich ganz herum und sah den anderen Mann an. Ohne ein Wort wich auch er in seine Spalte zurück, um sich zu verstecken und auf das nächste Opfer zu warten.
    Bosch sah die Straße hinauf und hinunter. Inzwischen schien sie menschenleer. Er drehte sich um und ging zu seinem Auto. Im Gehen nahm er das Handy heraus und rief beim Streifendienst der Central Division an. Er erzählte dem diensthabenden Sergeant von den zwei Männern, auf die er gerade getroffen war, und bat ihn, einen Streifenwagen loszuschicken.
    »So was passiert in dieser Scheißgegend doch an jeder Straßenecke«, sagte der Sergeant. »Was soll ich denn deswegen unternehmen?«
    »Ich möchte, dass Sie einen Wagen schicken und den beiden mal kräftig auf die Finger klopfen. Damit sie es sich künftig etwas genauer überlegen, ob sie so was noch mal probieren.«
    »Warum haben Sie das denn nicht gleich selber gemacht?«
    »Weil ich an einem Fall arbeite, Sergeant, und nicht die Zeit habe, Ihre Aufgaben und Ihren Schreibkram zu erledigen.«
    »Sie brauchen mir nicht zu erzählen, was ich zu tun habe, Chef. Ihr Anzüge seid doch alle gleich. Bildet euch ein …«
    »Jetzt hören Sie mal zu, Sergeant. Ich werde mir morgen früh die Verbrechensmeldungen ansehen. Und wenn ich da was lese, dass hier unten jemand verletzt wurde und die Verdächtigen ein Schwarzer und ein Weißer waren, dann werden Sie plötzlich von mehr Anzügen umgeben sein als in der Herrenabteilung eines Kaufhauses. Das garantiere ich Ihnen.«
    Bosch beendete das Gespräch und schnitt einen letzten Protest des

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