Vergessene Stimmen
wie sich sein Gegenüber verkrampfte. Die Haut um Losts Augen zog sich zusammen. Er merkte, dass er möglicherweise unvorsichtig geworden war. Er hatte Losts Stellung in der Küche als ein Zeichen psychischer Stabilität aufgefasst und die Warnung außer Acht gelassen, die Rider in Bezug auf Obdachlose ausgesprochen hatte.
»Na ja«, sagte er, »ich würde gern ein bisschen darüber wissen, was in den Jahren seit Rebeccas Tod mit Ihnen passiert ist.«
»Was soll das hiermit zu tun haben?«
»Vielleicht nichts, aber ich würde es trotzdem gern wissen.«
»Mir ist passiert, dass ich gestrauchelt und in ein schwarzes Loch gefallen bin. Hat einige Zeit gedauert, bis ich wieder Licht und einen Ausweg gesehen habe. Haben Sie Kinder?«
»Ja. Eine Tochter.«
»Dann wissen Sie, was ich meine. Wenn Sie ein Kind verlieren, so wie ich mein Mädchen verloren habe, dann können Sie einpacken, mein Freund. Dann sind Sie erledigt. Man ist wie eine leere Flasche, die jemand aus dem Fenster geworfen hat. Das Auto fährt weiter, aber man bleibt zerbrochen am Straßenrand liegen.«
Bosch nickte. Er kannte das. Er lebte ein Leben himmelschreiender Verwundbarkeit, war sich bewusst, dass etwas, was vielleicht in einer fernen Stadt passierte, dazu führen konnte, dass er lebte oder starb oder in das gleiche schwarze Loch fiel wie Lost.
»Nach dem Tod Ihrer Tochter haben Sie das Restaurant verloren?«
»Ja. Etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können. Mir musste das zustoßen, damit ich herausfand, wer ich wirklich bin. Und um den Weg hierher zu finden.«
Bosch wusste, dass solche Abwehrmechanismen auf tönernen Füßen standen. Nahm man Losts Logik beim Wort, hätte er genauso gut sagen können, dass der Tod seiner Tochter das Beste war, was ihm passieren konnte, weil es zum Verlust seines Restaurants führte, was wiederum all die großartigen Erkenntnisse über sich selbst nach sich zog, die er seitdem gemacht hatte. Es war kompletter Unsinn, und beide Männer am Tisch wussten es; nur einer konnte es nicht zugeben.
»Mr. Lost, erzählen Sie mir etwas«, sagte Bosch. »Sparen Sie sich die ganzen Selbsthilferatschläge für Ihre Treffen und die abgerissenen Typen auf, die hier Schlange stehen. Erzählen Sie mir, wie Sie gestrauchelt sind. Erzählen Sie mir, wie Sie in dieses schwarze Loch gefallen sind.«
»Das habe ich doch gerade.«
»Nicht jeder, der ein Kind verliert, fällt so tief in das Loch. Sie sind nicht der Einzige, dem so etwas passiert ist, Mr. Lost. Einige landen im Fernsehen, andere kandidieren für den Kongress. Was ist mit Ihnen passiert? Warum war es bei Ihnen anders? Und erzählen Sie mir nicht, es liegt daran, dass Sie Ihr Kind mehr geliebt haben. Wir alle lieben unsere Kinder.«
Einen Augenblick war Lost still. Er presste die Lippen fest aufeinander, während er um Fassung rang. Bosch merkte, dass er ihn wütend gemacht hatte. Aber das war in Ordnung. Er musste etwas nachhelfen.
»Also schön«, sagte Lost schließlich. »Also schön.«
Aber das war alles. Bosch konnte seine Kiefermuskeln arbeiten sehen. Der Schmerz der letzten siebzehn Jahre hatte sich in seinem Gesicht festgesetzt. Bosch konnte ihn lesen wie eine Speisekarte. Appetithappen, Vorspeisen, Desserts. Frustration, Wut, unwiederbringlicher Verlust.
»Also schön was, Mr. Lost?«
Lost nickte. Er entfernte die letzte Barrikade.
»Ich könnte Ihnen allen Vorwürfe machen, aber ich muss mir selbst Vorwürfe machen. Ich habe meine Tochter im Tod im Stich gelassen, Detective. Und danach war der einzige Ort, in dem ich mich vor diesem Verrat verstecken konnte, die Flasche. Die Flasche öffnet das schwarze Loch. Verstehen Sie?«
Bosch nickte. »Ich versuche es. Sagen Sie, was Sie damit meinen, Ihnen allen Vorwürfe machen. Meinen Sie damit die Polizei? Meinen Sie die Weißen?«
»Ich meine alles.«
Lost drehte sich so auf seinem Sitz, dass sein Rücken der gefliesten Wand neben dem Tisch zugewandt war. Er schaute auf die Tür, die in den Hinterhof führte. Er sah nicht Bosch an. Bosch wollte den Blickkontakt, aber er war bereit, sich damit abzufinden, solange Lost nur weiterredete.
»Dann fangen wir doch mit der Polizei an«, sagte Bosch. »Warum machen Sie der Polizei Vorwürfe? Was hat die Polizei getan?«
»Sie erwarten von mir, dass ich mit Ihnen darüber rede, was Ihre Leute getan haben?«
Bosch dachte scharf nach, bevor er antwortete. Er spürte, das war der Knackpunkt des Gesprächs, und sein Gefühl sagte ihm, dass dieser
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