Vergessene Welt
Kelly sich immer abgerissen und schlampig vor. Sie mußte die
alten Kleider ihrer Schwester auftragen, die ihre Mutter vor einer Million Jahren
in einem K-Mart gekauft hatte. Sie mußte sogar Emilys alte Reeboks tragen, die
so abgenutzt und schmutzig waren, daß sie nicht einmal mehr richtig sauber
wurden, wenn Kelly sie in die Waschmaschine steckte. Kelly wusch und bügelte
ihre Kleidung selber, ihre Mutter hatte nie Zeit dafür. Sie war die meiste Zeit
nicht einmal zu Hause. Neidisch beäugte Kelly Arbys ordentlich gebügelte
Khaki-Hose und die polierten Slipper und seufzte.
Doch auch wenn
sie neidisch auf Arby war, war er doch ihr einziger wirklicher Freund, der einzige
Mensch, der es okay fand, daß sie gescheit war. Kelly hatte Angst, daß man ihn
gleich in die neunte Klasse versetzte, denn dann würde sie ihn nicht mehr
sehen.
Arby hatte immer
noch Falten auf der Stirn. Er sah zu ihr hoch und fragte: »Warum ist Dr. Levine
nicht hier?«
»Ich weiß es
nicht«, antwortete sie. »Vielleicht ist was passiert.«
»Was denn?«
»Ich weiß es
nicht. Irgendwas.«
»Aber er hat
doch versprochen, daß er hiersein wird«, sagte Arby. »Und uns auf den Ausflug
mitnimmt. Es ist doch schon alles vorbereitet. Wir haben die Erlaubnis und
alles.«
»Na und? Wir
können trotzdem fahren.«
»Aber er sollte
hiersein«, entgegnete Arby stur. Kelly kannte dieses Verhalten an ihm. Arby war
daran gewöhnt, daß Erwachsene verläßlich waren. Seine Eltern waren beide sehr
verläßlich. Kelly hatte solche Sorgen nicht.
»Was soll’s,
Arb«, sagte sie. »Dann gehen wir eben allein zu Dr. Thorne.«
»Meinst du?«
»Klar. Warum
denn nicht?«
Arby zögerte.
»Vielleicht sollte ich zuerst meine Mom anrufen.«
»Warum?« fragte
Kelly. »Du weißt doch, daß sie dir dann befehlen wird, nach Hause zu kommen.
Komm schon, Arb. Gehen wir einfach.«
Er zögerte, noch
immer besorgt. So intelligent Arby auch war, brachte ihn doch jede Veränderung
eines einmal festgelegten Plans aus der Fassung. Aus Erfahrung wußte Kelly, daß
er die ganze Zeit murren und streiten würde, wenn sie ihn jetzt drängte. Sie
mußte warten, bis er sich entschieden hatte.
»Okay«, sagte er
schließlich. »Gehen wir zu Thorne.«
Kelly grinste.
»Wir sehen uns draußen«, sagte sie. »In fünf Minuten.«
Während sie die Treppe ins Erdgeschoß
hinunterging, ertönte der vertraute Singsang: »Kelly ist ‘ne Streberin, Kelly
ist ‘ne Streberin …«
Sie hielt den
Kopf hoch erhoben. Das waren nur diese blöde Allison Stone und ihre blöden Freundinnen.
Sie standen am Fuß der Treppe und verspotteten sie.
»Kelly ist ‘ne
Streberin …«
Sie rauschte an
den Mädchen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Ganz in der Nähe entdeckte
sie Miss Enders, die Aufsicht, die den Vorfall wie üblich ignorierte. Obwohl
doch Mr. Canosa, der Konrektor, erst vor kurzem eine spezielle Durchsage zum Verspotten
von Schülern gemacht hatte.
Hinter ihr
riefen die Mädchen: »Kelly ist ‘ne Streberin. Sie ist ganz groß … im MS-DOS …
und gibt ihr’m Compi einen Kuß.« Sie bogen sich vor Lachen.
Vorne an der Tür
sah sie Arby, der mit einem Bündel grauer Kabel in der Hand auf sie wartete.
Sie lief zu ihm.
»Vergiß es«,
sagte er, als sie bei ihm war.
»Das sind doch
blöde Zicken.«
»Genau.«
»Ist mir doch
alles egal.«
»Ich weiß.
Vergiß es einfach.«
Hinter ihnen
kicherten die Mädchen. »Kelly und Arby … gehen zu ‘ner Party … hören ‘ne Platte
und verlieben sich in Mathe …«
Als sie nach
draußen in die Sonne traten, ging der Singsang der Mädchen im Lärm des allgemeinen
Aufbruchs unter. Auf dem Parkplatz standen gelbe Schulbusse. Kinder liefen die
Treppe hinunter zu den Autos ihrer Eltern, die auf der Straße vor der Schule
Schlange standen. Ein reges Treiben herrschte.
Arby wich einem
Frisbee aus, das knapp über seinem Kopf vorbeisauste, und sah zur Straße
hinüber. »Da ist er wieder.«
»Schau einfach
nicht hin«, sagte Kelly.
»Tu ich nicht,
tu ich ja gar nicht.«
»Denk dran, was
Dr. Levine gesagt hat.«
»Mein Gott, Kel.
Ich vergeß das schon nicht.«
Auf der anderen
Straßenseite parkte der unauffällige graue Taurus, den sie in den vergangenen
zwei Monaten schon öfters gesehen hatten. Hinter dem Steuer saß ein Mann mit
struppigem Bart und tat so, als würde er eine Zeitung lesen. Dieser bärtige
Mann beschattete Dr. Levine, seit er angefangen hatte, in Woodside zu unterrichten.
Kelly glaubte, daß dieser Mann
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