Vergib uns unsere Sünden - Thriller
Feinkostladen: Weißbrot, ein halbes Pfund Brie aus der Normandie, ein Stück ungesalzene Butter, nichts davon angerührt. Das Brot trug das Datum des elften November, wie Reid gesagt hatte. Täglich frisch gebacken. Ohne Konservierungsstoffe. Morgen als Baseballschläger zu gebrauchen! , stand auf dem Etikett. Miller musste lächeln, Roth auch, aber da dachte Miller schon wieder daran, wie man Catherine Sheridan gefunden hatte, ihre Position, die Farbe ihres Gesichts, diese ganze steife Misslichkeit … Da verging einem das Lächeln. Auf Tage hinaus.
Roth notierte sich die Adresse des Feinkostladens, dann verließen sie beide das Haus durch die Küche und gingen quer über das Grundstück zum Gehsteig.
Über Catherine Sheridans Gedanken konnte Miller nur mutmaßen. Für den Augenblick musste er sich mit dem Wissen um ihre Wege an diesem Samstagvormittag und vielleicht einer Ahnung der Gründe begnügen. Er und Roth klapperten die Straße ab. Sie redeten mit ein paar Leuten, die gestern
nicht zu Hause waren. Niemand hatte etwas zu berichten. Jetzt war klar, dass das Haus rechts vom Sheridan-Grundstück unbewohnt war. Gestern Abend hatten sie es nicht mit Sicherheit sagen können, aber als Roth nach hinten ging, beide Hände an die Fensterscheibe legte und ins Erdgeschoss hineinspähte, sah er mit Tüchern verhängte Möbel, Räume in Stille und Schweigen. Der Nachbar zur Linken war noch nicht wieder zu Hause. Von der Columbia Street fuhren Miller und Roth zur Carnegie-Bibliothek.
»Eigentlich haben wir sonntags geschlossen«, sagte die Bibliothekarin. Sie hieß Julia Gibb, sah aus wie eine Bibliothekarin und redete auch so, mit flüsternder Stimme. Über die Ränder einer Lesebrille blickte sie ihnen entgegen. »Wir haben heute wegen des Veterans Day geöffnet. Gestern hatten wir nur bis Mittag offen, und zum Ausgleich haben wir heute auch bis Mittag offen.«
Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns sagte sie: »Sie kommen wegen Miss Sheridan, stimmt’s?« Sie zog eine Ausgabe der Washington Post unter dem Tresen hervor. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist eine so furchtbare Geschichte …«
Miller stellte die Fragen, Roth machte Notizen. Julia Gibb hatte Catherine Sheridan nicht gekannt, nicht mehr als jeden anderen Kunden. Am Verhalten der Frau war ihr nichts Außergewöhnliches aufgefallen, außer der Tatsache, dass sie Bücher zurückgegeben hatte, ohne neue auszuleihen.
»Ich denke die ganze Zeit darüber nach, ob ich etwas zu ihr gesagt habe«, verriet ihnen Julia Gibb. »Gestern? Ich glaube, gestern habe ich nichts zu ihr gesagt.«
»Welche Bücher hat sie zurückgegeben?«, fragte Miller.
»Ich habe es mir aufgeschrieben«, sagte Julia Gibb. »Wahrscheinlich ist es nicht wichtig, aber da sie gestern nun einmal hier war, hab ich mir schon gedacht, dass ich danach
gefragt werde.« Sie schob einen Zettel über den Tisch vor Miller hin. Roth nahm ihn und überflog die Titel - Steinbecks Of Mice and Men , Beast von Joyce Carol Oates und ein paar andere, die ihm nichts sagten.
»Und wann ist sie wieder gegangen?«
»Ziemlich bald … Gegen Viertel nach zehn ungefähr. Ich weiß, dass wir noch nicht lange geöffnet hatten.«
»Und Sie haben sie hinausgehen sehen?«
»Ich war mit einem anderen Kunden beschäftigt, aber ich habe die Tür zuklappen hören. Gesehen habe ich nicht, wer es war, aber es muss Miss Sheridan gewesen sein, denn nachdem der andere Kunde gegangen war, war ich allein.«
Miller nickte, schaute zu Roth. Roth schüttelte den Kopf; er hatte keine Fragen mehr.
»Fürs Erste war es das«, sagte Miller. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Miss Gibb.«
»Keine Ursache«, sagte sie. »Was für eine Tragödie. Dass einer Frau wie ihr etwas so Entsetzliches zustoßen konnte.«
»Stimmt«, antwortete Miller nüchtern, warf noch einen Blick auf den Zettel, auf den sie die Buchtitel geschrieben hatte, und verwahrte ihn sicher in seiner Manteltasche.
Als sie von der Bibliothek wegfuhren, verstand Miller die Wirkungsweise solcher Augenblicke. Sie dienten ihm dazu, sich an Menschen zu erinnern. Catherine Sheridan war ein Mensch - sie hatte vor ihrem Tod ein Leben gelebt. Genau wie Julia Gibbs. Gewöhnliche Menschen schauten zu, während die Leben anderer um sie herum in Stücke brachen. Kollisionen des Menschlichen, Augenblicke des Entsetzens, die niemand verstand, und die meisten machten sich nicht mal die Mühe, sie zu verstehen. Er trug in seiner Tasche eine Liste von Büchern,
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