Vergib uns unsere Sünden - Thriller
die sie kürzlich gelesen hatte. Hätte sie andere Bücher gewählt, wenn sie gewusst hätte, dass es die Letzten sind, die sie in ihrem Leben lesen würde? Ein seltsamer Gedanke, aber im Licht des Geschehenen führte er einem
die Zerbrechlichkeit und Unvorhersehbarkeit des Lebens noch deutlicher vor Augen.
Und es war nicht anders, als sie in dem Feinkostladen an der Ecke L Street und Tenth Avenue ankamen. Der Besitzer hieß Lewis Roarke, sein Akzent, der dunkle Haarschopf und die verwaschenen blauen Augen ließen irisches Blut vermuten. Er erinnerte sich nicht an Catherine Sheridan, auch nicht, als Roth ihm das bearbeitete Foto zeigte. Viel Betrieb. Es war früh am Tag. Leute kamen herein, versorgten sich mit Wurstaufschnitt, Chorizo, Salami Milanese, Netzen mit ausgesuchten Käsesorten für Geschenkkörbe oder belegten Baguettes. Leute mit Kindern, die Großeltern im Schlepptau. Verpflegung für unterwegs. Solche Dinge. Nein, an eine Catherine Sheridan erinnerte er sich nicht, warum auch? Dem Foto nach zu urteilen eine Frau wie jede andere. Die Welt wimmelte von Frauen wie jede andere. Ein Nasenpiercing oder eine blaue Strähne im Haar, daran hätte er sich vielleicht erinnert, aber an eine Frau wie jede andere? Er lächelte, schüttelte den Kopf, entschuldigte sich, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte.
Lewis Roarke nahm die Karte, die Miller ihm über die hohe Glastheke hinweg reichte, und wartete, bis Roth und Miller die Straße überquert hatten, bevor er sie in den Papierkorb fallen ließ. Wenn er sich heute nicht erinnert hatte, würde er sich morgen oder übermorgen erst recht nicht erinnern. Es standen schon wieder neue Kunden vor ihm. Ja, was kann ich für Sie tun?
Eine Straße weiter saßen Miller und Roth in ihrem Polizeiauto.
»Sie geht in die Bibliothek«, sagte Roth. »Sie bringt die Bücher zurück, leiht aber keine neuen aus. Dann geht sie in den Feinkostladen, wahrscheinlich alles zu Fuß. Sie kauft Brot, Butter, Käse, aber erst gegen halb fünf kehrt sie in ihr Haus zurück.«
»Weil sie irgendwo hingegangen ist, um sich mit einem Mann ins Bett zu legen«, stellte Miller sachlich fest.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Willst du erst mit der Gerichtsmedizinerin reden, oder fahren wir in den Pizzaladen?«
»Pizzaladen«, sagte Miller. »Ich will mit allen reden, die mit ihr Kontakt hatten.«
Roth ließ den Motor an.
»Wir wüssten doch noch nicht einmal, dass sie tot ist, wenn sie die Pizza nicht bestellt hätte«, fügte Miller hinzu.
5
In einiger Entfernung zum Zweiten Washingtoner Revier, einer Entfernung, die sich in sozialer Schicht, Kultur und Hautfarbe bemaß, stand Natasha Joyce in der Sonntagsschule ihrer Tochter auf dem Korridor vor dem Klassenzimmer und wartete auf das Elf-Uhr-Klingeln. Als Anbau an ein heruntergekommenes Gemeindehaus hatte die Sonntagsschule unter der äußeren Schicht von Graffiti noch etwas von ihrem ursprünglichen Charakter bewahrt. An der Eingangstür waren mehr Riegel und Vorhängeschlösser montiert, als Natasha zählen konnte, und entlang der inneren Wände, wo die Kinderzeichnungen und Aktionsplakate aufgehängt waren, sah man noch die raue Oberfläche der Betonblöcke, den provisorischen Anstrich, die der Gleichgültigkeit und den Finanzierungslücken im Gemeindeetat geschuldeten Risse und Narben. Es war ein Ort stiller Hoffnungslosigkeit, ein trauriges Spiegelbild der vergessenen Viertel Washingtons.
Natasha konnte durch die Milchglasscheibe die verwischten Farbflecke der hin und her laufenden Kinder sehen, hörte den Trubel, das Durcheinander der Stimmen, die Rufe und das Gelächter. Als die Klingel ertönte, ging Natasha hinein. Sie lächelte Chloes Lehrerin, Miss Antrobus, einen Gruß zu.
Ganz nett, die Frau, aber etwas verklemmt. Eine Mulattin, Rassenmix, halb und halb. Ein paar Generationen davor hatte sich eine Weiße von einem Schwarzen bumsen lassen, so oder so ähnlich. Jetzt gehörte Miss Antrobus nirgendwo dazu, weder zu den Schwarzen noch zu Georgetowns verängstigten Weißen. Vielleicht hatte sie in Jesus ihren Hafen gefunden. Vielleicht tat sie auch nur so.
Miss Antrobus warf ihr noch einen Blick zu, lächelte und bahnte sich durch die Kinderschar einen Weg zu Natasha, die neben der Tür stehen geblieben war.
»Kann sein, dass es nichts zu bedeuten hat«, sagte Miss Antrobus. Ihre Augen schienen unablässig hin und her zu huschen, als suchte sie nach etwas, das nicht da war.
»Auf meinem Schreibtisch hat eine Ausgabe der
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