Vergib uns unsere Sünden - Thriller
Fällen auch - alles verschüttet sein, was man eventuell hätte erfahren können. Menschen bewegten sich. Menschen vergaßen Dinge. Menschen, die mit solch tragischen Ereignissen in Berührung gekommen waren, taten alles, um nicht mehr daran denken zu müssen.
Um sechs Uhr machten die Uniformierten Feierabend. Metz und Oliver blieben bis acht, um die Wandbretter fertigzumachen, an denen alle wichtigen Kärtchen und Fotos für jeden der vier Mordfälle ihren Platz finden sollten. Kurz vor neun Uhr hatte Miller gnadenlose Kopfschmerzen, gegen die auch große Mengen Kaffee nichts ausrichteten. Bei allen vier Opfern gab es offene Fragen, vor allem hinsichtlich ihrer Identifizierung. Geburtsdaten stimmten nicht mit den Angaben von Krankenhäusern und Meldeämtern überein. Die bisherigen Ermittlungen waren schlampig geführt worden. Es gab viel nachzuarbeiten, und weil Miller die Hektik und die Wucht der Ermittlung jetzt schon spürte, war er nicht froh über den zusätzlichen Zeitaufwand und die Aufmerksamkeit, die solch eine Arbeit erforderte.
Roth war um Viertel vor zehn zum Aufbruch bereit, stand
in der Tür und machte Miller das Angebot, zu ihm mitzukommen und in seinem Haus zu übernachten.
Miller schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin nicht gerne das fünfte Rad am Wagen.«
»Dann fahr aber nach Hause«, antwortete Roth. »Geh unter die Dusche, hau dich aufs Ohr. Die Sachen laufen uns nicht weg.«
»Ich bleib nicht mehr lang«, sagte Miller. »Geh du zu deinen Kids, solange noch Zeit dafür ist.«
Ohne ein weiteres Wort hob Roth die Hand zum Gruß und verließ das Büro.
Miller stand vom Schreibtisch auf, ging zum Fenster und wartete, bis er die Lichter von Roths Auto unten auf der Straße vorübergleiten sah. Miller kannte Amanda Roth, die Frau seines Partners; es war kaum mehr als eine Bekanntschaft, aber er mochte sie. Auch Roths Kindern war er schon begegnet, es waren drei - vierzehn, elf und sieben Jahre alt. Als Al noch so gut wie nichts verdiente, hatte Amandas Familie der Tochter und dem Schwiegersohn dabei geholfen, ein zweistöckiges Sandsteinhaus zu kaufen. Al und Amanda hatten geduldig abgewartet, dass das MCI-Center, das heutige Verizon, die Menschen zurück in dieses Viertel zu locken begann. Auch die Bewilligung von Sanierungsgeldern für das Viertel, die Rücknahme der Bewilligung, einen Bürgermeisterwechsel und die Erneuerung der Bewilligung hatten sie abgewartet, sich zurückgelehnt und gelächelt, als die Zahlen sich nach und nach besserten, und heute wohnten die fünf Roths in einem komplett abgezahlten Haus mit einem Verkehrswert von über vierhunderttausend Dollar. Albert und Amanda Roth waren Washingtoner durch und durch. Alles, was sie besaßen, hatten sie selbst verdient, und Selbstverdientes stank nicht. Leute wie die Roths, die zäh an ihrem jüdischen Erbe festhielten, waren genau der Menschenschlag, zu dem Miller gehört hätte, wenn es nach
seiner Mutter gegangen wäre, und zu dem er nie gehören würde.
Miller besorgte sich im Fuhrpark ein Zivilfahrzeug. Auf der Heimfahrt sah er lauter Texte vor Augen, eng gedruckte Verhörprotokolle, und die fehlenden Einzelheiten sprangen ihn an und erinnerten ihn daran, wie hastig und oberflächlich die ersten Tatortanalysen durchgeführt worden waren. Das war bei Margaret Mosley, Ann Rayner und Barbara Lee so gewesen. Bei Catherine Sheridan, der Frau mit den Büchern aus der Bibliothek, der Mahlzeit aus dem Feinkostladen, die sie nicht zu sich genommen hatte, dem unbekannten Sexualpartner, mit dem sie in der Zeit zwischen halb elf am Vormittag und vier Uhr nachmittags zusammen gewesen war, würde es nicht so sein.
Die Lichter verließen ihn nicht während der Fahrt; um kurz vor elf parkte Miller den Wagen am Ende der Church Street. Der Laden war geschlossen, aber hinten brannte noch Licht. Er klopfte an die Tür, und Zalman kam nach vorn, um ihm aufzumachen. Er reichte Miller gerade mal bis zur Schulter, hatte kaum noch Haare, das Gesicht war ein Labyrinth aus Runzeln - so und nicht anders stellte man sich einen alten Juden vor. Sein Äußeres kaschierte seine Tiefgründigkeit, und auch wenn er seiner Frau die Führung des Ladens überlassen hatte, wusste Miller, dass es ihn ohne Zalmans unermüdliche Arbeit nicht geben würde.
»Ach, sie ist böse auf Sie«, sagte er zu Miller. »Heute Morgen sind Sie ohne Frühstück aus dem Haus. Und gestern Abend ohne ein Wort heimgekommen.«
»He, Zalman«, sagte Miller.
»Ja, was, he,
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