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Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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wenn er schlafen sollte. Es konnten ganz einfache Dinge sein, zum Beispiel warum die Farbe an der Wand weiß war; mitunter waren es aber auch kompliziertere Fragen, etwa was dem Mann fehlte, den sie auf dem Rückweg vom Kindergarten auf einer Bank im Birkelunden-Park hatten schlafen sehen. Manche seiner Fragen gingen richtig tief und ließen erkennen, dass er sich über dieses Thema schon eine ganze Weile Gedanken gemacht hatte, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Aber auch diese Fragen kamen immer am Abend, wenn es ruhig wurde.
    »Papa, hasst du Mama eigentlich?«
    Es war nichts Außergewöhnliches, was mit Nora und ihm passierte, so etwas geschah jeden Tag, überall auf der Welt. Menschen finden einander, Menschen lieben sich, sie hassen sich und lieben sich wieder. Dann tun sie vielleicht etwas Dummes oder erleben etwas, das es ihnen unmöglich macht, weiter zusammenzuleben. Und dann trennen sie sich, um das Gleiche vielleicht mit jemand anderem erneut durchzuspielen. Oder auch nicht. Sie waren wirklich kein Sonderfall. Trotzdem quälte ihn immer wieder der Gedanke daran, dass ausgerechnet ihm das passieren musste. Ausgerechnet ihnen. Ausgerechnet Jonas.
    »Hat Mama das gesagt?«
    »Nein, aber …«
    Henning richtete sich auf, blieb auf den Ellbogen gestützt liegen und sah Jonas an. Je mehr er darüber nachdachte, desto schwerer fiel ihm die Antwort. Der Augenblick zog sich in die Länge, wurde zu lang, um ihn zu nutzen, und so sagte er schließlich nur: »Nein, ich hasse Mama nicht, Jonas.«
    Keine Erklärung. Nur eine kurze Feststellung, wie ein Kind, das darum sagt, wenn man es fragt, warum es die Zeitung mit der Schere zerschnitten hat. Henning weiß nicht, wie lange er dort lag, auf den Ellbogen gestützt, und in Jonas fragendes Gesicht blickte, auf jeden Fall fühlte es sich wie eine Ewigkeit an.
    Gleichmäßiges Brummen und ein grelles Licht reißen ihn aus seinen Gedanken. Sein Blick richtet sich auf das Nachtschränkchen, auf dem sein Handy vibriert. Henning beugt sich hinüber und nimmt es in die Hand.
    »Hallo?«
    »Hallo, ich bin’s … Nora.«
    Henning hört Stimmen im Hintergrund und richtet sich auf. »Was ist los?«
    »Es geht um Iver.« Ein Anflug von Panik ist in ihrer Stimme zu hören. »Er ist im Krankenhaus. Er ist überfallen und niedergeschlagen worden.«
    »Was?«
    »Er liegt im Koma.«
    Henning bleibt der Mund offen stehen. Seine Augen flackern hin und her.
    »Wo bist du?«, fragt er.
    »Im Ullevål.«
    »Okay«, sagt er und steht auf. »Ich bin sofort da.«
    77
    Iver, im Koma, bewusstlos geschlagen. Das kann kein Zufall sein, denkt Henning und wirft einen Zweihundertkronenschein auf den Beifahrersitz des Taxis, bevor er ins Krankenhaus stürmt. So schnell er kann, läuft er zur Intensivstation. Über blank gebohnerten Boden, durch zwei Türen, an Angehörigen vorbei, entlang an weißen Wänden mit willkürlich platzierten billigen Gemälden, an entgegenkommenden Ärzten und Putzfrauen vorüber, ohne auch nur einen der Blicke zu erwidern. Erst als er Nora findet, sieht er auf.
    Sie erhebt sich von ihrem Stuhl und kommt ihm entgegen. Schon aus der Entfernung sieht er, wie rot ihre Augen sind. Sie bleibt erst stehen, als er sie in die Arme nimmt und sie an sich drückt.
    Verdammt, wie sie sich festklammert.
    Er hält sie in seinen Armen, lange, und spürt die Wärme ihres Körpers. Erinnerungen werden geweckt, Bilder, die er nicht sehen, nicht zu neuem Leben erwecken will. Aber er schafft es nicht, das Gefühl von ihnen aufzuhalten, es abzublocken, dabei scheint es so unbegreiflich weit entfernt zu sein, so unerreichbar, weil sich ein Abgrund zwischen ihnen auftut, über den keine Brücke führt. In diesem Moment spürt er, dass er sich selbst hasst, weil es so wehtut, dass sie in seinen Armen um einen anderen weint.
    »Haben sie schon was gesagt?«, fragt Henning und schiebt sie von sich weg.
    Sie schnieft und schüttelt den Kopf. »Sie können noch nichts sagen.«
    »Liegt er noch immer im Koma?«
    Sie nickt und trocknet sich die Tränen, ehe sie zu einer Sitzgruppe gehen und Platz nehmen.
    »Wer hat ihn gefunden?«
    »Eine alte Frau, die da im Haus wohnt. Sie ist von dem Lärm aufgewacht und hat aus dem Fenster geschaut.«
    »Aber sie hat nicht gesehen, wer das getan hat?«
    Nora schüttelt den Kopf, legt die Hände an den Mund und kneift die Augen zu. Wieder kommen ihr die Tränen.
    »Wie hast du es erfahren?«
    »Iver hatte ein paar wache Momente, als er eingeliefert

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