Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Obwohl alles in mir danach schrie, schleunigst von hier zu verschwinden, zwang ich mich, weiter auf ihn zuzugehen, bis ich schließlich direkt vor dem Ladentisch stand. Was wohl keine so gute Idee war, denn jetzt war ich ihm so nahe, dass ich die Sommersprossen auf seiner Nase, den Mehlstaub auf seiner Wange und den fragenden Ausdruck in seinen Augen sehen konnte. Ich wandte den Blick ab, holte tief Luft und fuhr fort: »Was ich gemacht hab, war echt gemein«, sagte ich. »Euch einfach so, ohne Erklärung stehen zu lassen.«
»Taylor«, antwortete Henry gedehnt und legte die Stirn in Falten. »Was soll das denn jetzt?«
Ich wollte ihm nichts von dem Gespräch mit Lucy oder meinen durch die Pyjamaparty ausgelösten Einsichten erzählen. Aber er ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und das war, wenn ich ehrlich war, schon eine ganze Weile so. Denn er war der einzige Junge, der bisher in meinem Beziehungsleben je eine Rolle gespielt hatte. Er war meine erste Liebe, auch wenn ich nicht in der Lage gewesen war, mir das einzugestehen, weil ich vermutlich keine Ahnung hatte, was das bedeutete. »Du … fehlst mir einfach«, sagte ich und merkte sofort, wie komisch das klang. »Und ich fänd’s echt gut, wenn wir Freunde sein könnten. Einfach nur Freunde«, fügte ich hinzu, weil mir das Mädchen aus der Eisdiele einfiel und ich nicht wollte, dass er sich von mir angebaggert fühlte.
»Aha«, erwiderte Henry ziemlich entgeistert. »Sonst noch was?«
»Und außerdem wollte ich fragen, ob du das hier in euer Schaufenster hängen könntest«, sagte ich, legte den Stapel Plakate auf dem Ladentisch ab und schob eins zu ihm hinüber. Dabei behielt ich sein Gesicht im Auge und versuchte herauszufinden, was er über das zusammenhanglose Zeug dachte, was ich da gerade gefaselt hatte.
»Krieg ich hin«, antwortete er, nahm das Plakat entgegen und betrachtete es. »Casablanca«, sagte er nachdenklich. »Gute Wahl.«
»Hab ich ausgesucht«, ergänzte ich hastig.
Er schaute von den Plakaten auf und lächelte mich überrascht an. »Der gefällt dir?«, erkundigte er sich.
Ich merkte, wie mein Gesicht ganz heiß wurde, obwohl ich inzwischen so gebräunt war, dass man es nicht gleich sah. Das Gespräch war mal wieder gründlich danebengegangen, und ich bereute alles, was ich gesagt hatte. »Na ja, ich hab ihn noch nie gesehen«, antwortete ich. »Aber … er soll halt gut sein.«
Henry starrte wieder auf das Plakat, als ob dort die Antwort zu finden war, nach der er suchte. »Ich weiß nicht, Taylor«, sagte er schließlich. »In den letzten fünf Jahren ist eine Menge passiert.«
»Ich weiß«, sagte ich und merkte plötzlich, wie sehr ich mich schämte – als ob dieses Gefühl bis dahin auf Eis gelegen hatte. »Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich hätte nicht … ich meine …« Ich brachte keinen einzigen vollständigen Satz zustande und war unendlich erleichtert, endlich dem Drang nachgeben zu können, der mich sofort nach dem Betreten des Ladens überkommen hatte – nämlich ihn umgehend wieder zu verlassen. »Tut mir leid«, murmelte ich noch einmal und steuerte zielstrebig auf die Tür zu. Als ich den Türgriff schon in der Hand hielt, hatte Henry seine Sprache wiedergefunden und rief: »Taylor!« Mit einem leisen Hoffnungsschimmer drehte ich mich um. Aber er hielt nur den Plakatstapel hoch. »Die hast du vergessen.«
Ich hatte nicht geahnt, dass es möglich war, mich noch mehr zu schämen als ohnehin schon – aber man lernt ja bekanntlich nie aus. »Ach ja«, murmelte ich. »Stimmt.« Hastig ging ich noch einmal zurück, schnappte den Stapel und wich seinem Blickaus. Doch zu meiner Überraschung ließ Henry die Plakate nicht gleich los, sodass ich gezwungen war ihn anzusehen, in seine grün leuchtenden Augen, die mich immer wieder durcheinanderbrachten. Er holte Luft, als ob er etwas sagen wollte, und sah mir ebenfalls in die Augen. Aber dann brach unser Blickkontakt wieder ab, er schaute weg und ließ die Plakate los.
»Man sieht sich«, sagte er und ich erinnerte mich schwach, dass ich das zu ihm gesagt hatte, als wir uns zum ersten Mal auf dem Steg wiederbegegnet waren.
»Wird sich wohl nicht vermeiden lassen«, wiederholte ich,was er mir bei dieser Gelegenheit geantwortet hatte. Dabei zwang ich mich zu lächeln, damit es nicht gar zu spitz klang, machte kehrt und verließ den Laden. Diesmal rief er mich nicht zurück.
Mit rasendem Puls überquerte ich die Straße und ging auf die Zoohandlung zu. Heftiger
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