Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
weiter – einmal hatte ich Kim und Jeff nachts draußen gesehen, jeder mit einem Blatt Papier in der Hand liefen sie aufund ab und versuchten offensichtlich Ideen zu entwickeln. Ich verlangsamte meinen Schritt und versuchte mit zusammengekniffenen Augen zu erspähen, wer dort am Rande des Stegs saß. Dann drehte sich die Person etwas nach links und ich erkannte Henry.
Ich erstarrte. Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen, bevor er mich bemerkte. Er hatte sich nicht weit genug umgedreht, um mich zu sehen, aber ich fürchtete, dass eine plötzliche Bewegung seine Aufmerksamkeit wecken konnte. Dann dachte ich an all die Nächte, in denen ich einfach nicht schlafen konnte, und daran, dass ich so oft weggelaufen war, wenn ich doch hätte bleiben sollen. Und bei Lucy hatte ich ja eine Gelegenheit bekommen, wenigstens zu versuchen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht gab es die ja auch mit Henry? Ich holte tief Luft und ging weiter, setzte tapfer einen Fuß vor den anderen, bis ich beim Steg ankam. Er drehte sich zu mir, und erst da kam mir der Gedanke, dass ihm mein Bedürfnis, mich meinen Fehlern zu stellen, möglicherweise reichlich egal war – dass er vermutlich hier auf dem Steg saß, weil er alleine sein wollte und an dem Tag höchstwahrscheinlich schon mehr als genug von mir gehabt hatte. Außerdem war ich in meinen Schlafsachen – ausgesprochen knappen Frottee-Shorts und einem ärmellosen T-Shirt ohne BH darunter. Plötzlich war ich sehr froh über meinen Pullover und zog ihn noch ein bisschen fester. Ich nickte nur, statt den Arm zu heben und ihm zuzuwinken. »Hallo«, sagte ich.
»Hi«, erwiderte er und klang überrascht. Ich zwang mich zu ihm hinzugehen, denn ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt stehen blieb oder zögerte, würde die innere Stimme, der ich meistens Gehör schenkte, nur noch lauter werden. Und dann würde ich mich garantiert umdrehen und panisch zurück ins Haus rennen, statt das Risiko auf mich zu nehmen, mich zum x-ten Male an diesem Tag vor ihm zu blamieren.
Ich setzte mich am Ende des Stegs neben ihn, wobei ich aufpasste, dass zwischen uns genügend Abstand blieb. Dann streckte ich die Beine aus, bis ich das Wasser berührte. Der See war kalt, fühlte sich aber gut an meinen Füßen an, als ich sie unter der Wasseroberfläche in kleinen Kreisen bewegte. »Ich konnte nicht schlafen«, versuchte ich einen Anfang zu machen, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.
»Ich auch nicht«, sagte er. Dann sah er mich an und lächelte ein bisschen. »Kalt?«
»Bisschen.« Ich drückte meinen Pullover an mich. Er schien sich in der kalten Nachtluft wohlzufühlen, obwohl er nur ein graues T-Shirt trug, das weich und verwaschen aussah, und ein Paar Shorts mit Kordelzug. Ich überlegte kurz, ob das vielleicht auch seine Schlafsachen waren, und schon bei dem Gedanken musste ich ganz schnell meinen Blick abwenden und mich stark auf den See und das Mondlicht konzentrieren.
»Tut mir leid wegen heute Nachmittag«, sagte er und sah ebenfalls auf den See hinaus. »Im Auto. Ich wollte eigentlich gar nicht so dichtmachen.«
»Ah«, murmelte ich. Ich hatte nicht verstanden, was plötzlich los gewesen war. »War das, weil …«, setzte ich an, doch dann wusste ich nicht, wie ich es sagen sollte. »Hab ich irgendwas Falsches gesagt?«, wagte ich schließlich.
Henry schüttelte den Kopf und sah zu mir. »Eigentlich nicht. Es ist nur …« Er atmete hörbar aus und dann fuhr er fort: »Meine Mutter hat uns verlassen.« Als er das sagte, wich er meinem Blick nicht aus, und in dem Versuch, meinen Schreck nicht zu verraten, ließ auch ich meine Augen fest auf seinen ruhen. »Vor fünf Jahren«, ergänzte er. »Am Ende des Sommers.« Er unterbrach den Blickkontakt und sah wieder auf den See. Ich schaute nach unten, wo seine Hände so fest den Rand des Stegs umfassten, dass seine Fingerknöchel ganz weiß wurden.
»Was ist denn passiert?«, fragte ich leise, wobei ich versuchte, meine Bestürzung nicht durchklingen zu lassen, obwohl ich innerlich fassungslos war. Mrs Crosby – einfach abgehauen?
Henry zuckte die Schultern und machte mit einem Fuß eine heftige Bewegung im Wasser, sodass eine Reihe kleiner Wellen entstand, die sich immer weiter fortpflanzten, bis die Oberfläche schließlich wieder ruhig lag. »Ich hab schon gewusst, dass sie in dem Sommer ziemliche Probleme hatte«, sagte er und ich versuchte, mich zurückzuerinnern. Um ehrlich zu sein, hatte ich in
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