Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
jenem Sommer, in dem es für mich hauptsächlich um erste Dates, Jahrmarktküsse und Stress mit Lucy gegangen war, relativ wenig auf Henrys Mutter geachtet. Sie war mir vorgekommen wie immer – ein bisschen reserviert und nicht unbedingt freundlich. »Ich hab das nur nicht so ernst genommen. Aber in der Woche, bevor wir nach Maryland zurückwollten, ist sie nach Stroudsburg gefahren, weil sie irgendwas kaufen wollte. Und ist nie wieder nach Hause gekommen.«
»Ach du Schande«, murmelte ich und versuchte – völlig vergeblich – mir vorzustellen, dass meine Mutter so etwas täte. Ganz egal, wie oft wir uns gezofft hatten oder nicht einigen konnten, egal, wie sehr ich manchmal versucht hatte, sie mir vom Hals zu halten – nicht ein einziges Mal war mir in den Sinn gekommen, dass sie weggehen könnte.
»Jep«, sagte Henry mit einem kurzen, bitteren Lachen. »An dem Tag hat sie dann spät noch mal angerufen, wahrscheinlich nur, weil sie nicht wollte, dass Dad die Polizei einschaltet. Und danach haben wir nie wieder was von ihr gehört. Erst vor zwei Jahren, als sie die Scheidung eingereicht hat.«
Das Ganze wurde immer krasser. »Du hast deine Mutter seit fünf Jahren nicht gesehen?«, fragte ich fassungslos.
»Nein«, antwortete er fast barsch. »Und ich weiß auch nicht, ob ich sie je wiedersehe.« Er sah zu mir. »Und weißt du, wasdas Schlimmste war? Ich war gerade mit meinem Vater bei’nem Baseballspiel. Sie hat Davy einfach alleine zu Hause gelassen.«
Ich rechnete und kam zu dem Schluss, dass Davy da gerade sieben war. »Hat er … « Ich schluckte. »Ich meine, ist irgendwas …«
Henry schüttelte den Kopf, und ich war froh, dass ich meinen Satz nicht zu Ende bringen musste. »Ihm ist nichts passiert«, sagte er. »Aber ich glaube, das ist der Grund, weshalb er seitdem so auf Überleben in der Wildnis steht. Obwohl er uns immer sagt, dass das nur wegen einer Sendung ist, die er mal im Fernsehen gesehen hat.«
Langsam fügten sich die Teile zu einem Ganzen zusammen. »Wohnt ihr deshalb jetzt das ganze Jahr über hier?«, fragte ich. Und selbstverständlich war das auch der Grund, weshalb keiner von uns Mrs Crosby gesehen hatte, seit wir hier waren.
»Jep«, bestätigte er. »Dad musste sich einen neuen Job suchen, bei dem er öfter zu Hause ist. Und hier oben hat es ihm immer gefallen. Wir mussten nur umziehen, weil Davy und ich in dem alten Haus zusammen nur ein Zimmer hatten. Obwohl er ja offenbar gar kein eigenes braucht, wie’s jetzt aussieht«, fügte er hinzu und seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, als er hinüber zu ihrem Garten sah, wo Davys Zelt stand. Er zuckte die Schultern und wirbelte wieder mit dem Fuß Wasser auf. »Mein Vater war eine Zeitlang ziemlich am Ende, nachdem sie verschwunden war.« Er sprach wieder leiser. Ich wartete, ob er noch mehr sagen, es noch genauer erklären wollte. Aber er war schon weiter. »Also war der Umzug hierher so ziemlich das Beste, was wir tun konnten.«
Ich nickte, obwohl ich es immer noch zu begreifen versuchte. Und plötzlich wurde mir mit einer Deutlichkeit bewusst, die mir einen Schauer den Rücken hinunterjagte, dass ein oder zwei Wochen nachdem ich ohne jede Erklärung urplötzlich verschwunden war, seine Mutter das Gleiche getan hatte. »Henry«, sagte ich leise und er schaute mich an. »Es tut mir wirklich, wirklich leid.« Ich hoffte, dass er merkte, wie ernst es mir war, und dass er diese Worte nicht einfach ausblendete, so wie ich es bisher mit so ziemlich jedem gemacht hatte, der sie mir angeboten hatte.
»Danke«, sagte er ebenso leise, vermied aber meinen Blick und ich konnte nicht erkennen, ob er mir glaubte oder nicht. »Eigentlich wollte ich dir nur sagen, warum ich so ausgeflippt bin.«
»Wie Ausflippen sah das aber nicht aus«, wandte ich ein.
»Ich flippe halt eher still und leise aus«, sagte Henry trocken, und ich musste lächeln. »Tut mir leid, dass ich dir das alles so vor die Füße kippe«, fügte er schulterzuckend hinzu.
»Ich bin froh, dass du’s mir erzählt hast«, versicherte ich ihm. Er erwiderte meinen Blick mit einem kleinen Lächeln.
Aber ich wusste, dass es auch etwas gab, das ich ihm erzählen musste. Ich holte wie immer Luft, aber irgendwie schien es hier draußen in der Dunkelheit nicht ganz so unmöglich zu sein, es ihm zu sagen. »Mein Vater ist krank.« Kaum, dass ich das ausgesprochen hatte, spürte ich wieder die Tränen in meinen Augen kribbeln, und meine Unterlippe fing an zu
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