Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
ihn vermutlich zum letzten Mal sehen würde. Und dass es wahrscheinlich überhaupt einer der letzten Filme war, die er in seinem Leben noch sah. Ich musste mühsam schlucken, ehe ich wieder etwas sagen konnte. »Und außerdem«, versuchte ich gut gelaunt zu klingen, »hat Warren für den Film ein Date.«
»Ach ja?«, fragte Dad. »Hört er dann endlich auf, den armen Hund zu quälen?«
»Da musst du ihn wohl selber fragen«, antwortete ich und verließ die Küche. Dad folgte mir auf die Veranda, wo Gelsey gerade mit einem Bein auf dem Geländer Dehnübungen machte und den Kopf in einem derart unnatürlichen Winkel zum Knie neigte, dass mir schon bei dem Anblick alles wehtat, egal wie oft ich das schon mit angesehen hatte.
»Schultern zurück«, mahnte meine Mutter, und Gelsey korrigierte umgehend ihre Haltung. Dad ließ sich neben Warren nieder, der offensichtlich immer noch mit dem Maiskolben beschäftigt war, den ich ihm in die Hand gedrückt hatte. Ich bemerkte, dass Dad nach dem kurzen Gang von der Küche auf die Veranda schon leicht außer Atem war und sich kurz ausruhen musste. Er setzte den Hund ab, der sich liebend gern auf seinem Arm herumtragen ließ, und lächelte meinen Bruder an.
»Na, wie ich höre, hast du ein Date?«, sagte er zu Warren, der erschrocken und mit rotem Kopf endlich anfing, den Mais zu schälen.
»Wirklich?«, freute sich meine Mutter, setzte sich auf die Armlehne von Dads Sessel und lächelte Warren an. »Seit wann denn das?«
»Seit Taylor die Verabredung für ihn eingefädelt hat«, meldete sich Gelsey zu Wort, die gerade von ihrer Dehnübung zu einer menschlichen Haltung wechselte.
»Was?«, fragte meine Mutter ungläubig. Lachend ging ich zu meinem Bruder und half ihm mit dem Mais, während er Bericht erstattete. Als ich so dasaß und zuhörte und gelegentlich eine Bemerkung machte, fiel mir auf, dass es so was bei uns eigentlich noch nie gegeben hatte – einfach nur zusammensitzen und über persönliche Sachen reden. Zu Hause wäre Dad im Büro gewesen, und wir drei hätten sicher lauter andere Dinge zu tun gehabt. Und obwohl unser Aufenthalt hier einen so traurigen Anlass hatte, war ich plötzlich sehr froh, endlich einen solchen Moment mit meiner Familie zu erleben.
Kapitel 26
Ich konnte mal wieder nicht schlafen, wie es diesen Sommer bei mir offenbar zur Gewohnheit wurde. Nachts lag ich stundenlang wach, selbst wenn ich den ganzen Tag gearbeitet hatte, völlig erledigt war und eigentlich in dem Moment, wo ich den Kopf aufs Kissen sinken ließ, hätte einschlafen müssen. Aber kaum lag ich im Bett, wälzte ich mich endlos umher, und meine Gedanken raubten mir den Schlaf. Es kam mir vor, als ob ich seit unserer Ankunft in Lake Phoenix unablässig mit allem konfrontiert wurde, was ich vor fünf Jahren falsch gemacht hatte und seitdem versuchte zu verdrängen. Immer nachts, wenn ich den Gedanken nicht entrinnen konnte, nisteten sie sich in meinem Kopf ein und wollten nicht verschwinden.
Seltsamerweise war es auch der Hund, der mich nachts wach hielt. Etwas an Henrys Reaktion, als er hörte, dass das Tier einfach ausgesetzt worden war, ging mir nicht aus dem Sinn. Denn so sehr ich auch die Mieter dafür verteufelte, dass sie den Hund zurückgelassen hatten – im Grunde war das nichts anderes als das, was ich nun schon seit Jahren tat: weglaufen oder aufgeben, sobald es schwierig wurde. Ich war nur eben noch nie damit konfrontiert worden, dass solch ein Verhalten auch seinen Preis hatte. Vielmehr hatte ich meistens nach Kräften versucht, den Folgen meines Handelns konsequent aus dem Weg zu gehen. Aber Murphy war der lebende Beweis, dass es nicht egal war, wenn man jemanden oder etwas einfach zurückließ.
Wenn ich es überhaupt nicht mehr aushielt, stand ich auf und zog mir einen Pullover über, ein bisschen frische Luft würde sicher nicht schaden und vielleicht helfen, einen klareren Kopf zu bekommen, sagte ich mir. Dann schlich ich mich den Flur entlang und über die Veranda nach draußen. Ich verschwendete keine Zeit mit Schuhen, sondern trat einfach barfuß hinaus auf die Wiese.
Es war eine wundervolle Nacht, der Mond stand riesengroß am Himmel und sein Spiegelbild auf dem See war riesig. Die Luft fühlte sich kühl an, ein leichter Wind raschelte in den Blättern, und ich zog meinen Pullover etwas fester um mich, als ich zum Steg hinunterging. Erst als ich auf der kleinen Treppe stand, sah ich, dass schon jemand am Steg war. Aber das überraschte mich nicht
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