Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
durch den Garten, bog um die Hausecke und summte dabei die Melodie vor mich hin, die mir Warren ins Ohr gesetzt hatte. Als ich hineingehen wollte, sah ich Dad am Verandatisch sitzen. Vor ihm dampfte eine Tasse Kaffee.
Ich atmete tief durch und stieg mit rotem Kopf die Stufen hinauf. »Hallo«, murmelte ich und versuchte hastig meine Haare glatt zu streichen, da ich mir lebhaft vorstellen konnte, wie sie aussahen.
Mein Vater trug seinen blau gestreiften Schlafanzug und darüber den karierten Bademantel. Als er mich sah, schüttelte er den Kopf und nippte an seinem Kaffee, aber irgendwie wirkte er amüsiert auf mich. »Spät geworden, hm?«, fragte er.
»Bisschen«, antwortete ich und wurde noch röter. »Äh also, Henry ist mit mir auf den See rausgerudert, weil wir noch so ’ne Art Feuerwerk sehen wollten. Und dann sind wir irgendwie eingeschlafen.« Natürlich merkte ich selbst, wie albern das klang.
Dad schüttelte wieder den Kopf. »Wenn ich bei solchen Ausreden doch nur jedes Mal einen Groschen kriegen würde«, sagte er mit so ernster Miene, dass ich lachen musste. Dann zog er eine Augenbraue hoch und trotz seines abgemagerten Gesichts erkannte ich unzweifelhaft seine Kalauer-Miene. »Diese Ausrede ist definitiv nicht wasserdicht«, verkündete er, und ich ließ mich stöhnend neben ihm nieder. »Hier läuft was völlig aus dem Ruder. Das grenzt ja an einen Dammbruch …«
»Jetzt reicht’s aber«, sagte ich lachend. Mit beiden Händen hob er die Tasse und trank wieder einen Schluck. »Wieso bist du denn so früh schon auf?«
Er sah aus dem Fenster, das auf den See hinaus zeigte. »Ich wollte den Sonnenaufgang sehen«, antwortete er. Ich schaute ebenfalls in diese Richtung, und wir saßen schweigend eine Weile da. »Ich sollte dir jetzt vermutlich eine Standpauke halten«, sagte er mit einem Seitenblick auf mich. »Aber …« Er verstummte und zuckte lächelnd die Schultern. Dann zeigte er nach draußen, wo sich der Himmel gerade zartrosa wie Gelseys Spitzenschuhe färbte. »Ist das nicht wunderschön?«, flüsterte er leise.
Ich musste mich räuspern, um antworten zu können. »Das ist es«, murmelte ich.
»Keine Ahnung, wie viele davon ich verpasst oder als selbstverständlich angesehen habe«, sagte er, ohne den Blick vom See zu wenden. »Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, hier jeden Morgen den Sonnenaufgang mitzuerleben. Aber ich muss gestehen«, sagte er und schaute zu mir herüber, »ich bin so schrecklich müde, Kleines.«
Als er das sagte, fiel mir auf, wie erschöpft er aussah – so erschöpft, wie ich noch nie jemanden gesehen hatte. Auf die tiefen Falten in seinem Gesicht und die Tränensäcke unter den Augen hatte ich bis dahin nicht wirklich geachtet. Man sah ihm an, dass es eine Müdigkeit war, gegen die ein paarmal Ausschlafen nicht im Geringsten ankam – eine Müdigkeit, die ihm tief in den Knochen steckte.
Aber ich konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Ich nickte nur und rückte meinen Stuhl noch ein Stück näher an ihn heran. Und zusammen sahen wir zu, wie der Himmel seine Farbe veränderte, allmählich heller wurde und ein neuer Tag begann.
Kapitel 32
Allmählich verstand ich, was Charles Dickens meinte. Es war die beste und die schlimmste Zeit, und zwar zugleich. Denn eigentlich lief alles super – mit Henry, mit Lucy, bei der Arbeit, und sogar mit meinen Geschwistern. Aber meinem Vater ging es von Tag zu Tag schlechter. Der FedEx-Laster, der ihm ständig seine Akten aus der Kanzlei gebracht hatte, kam nicht mehr. Nach drei Tagen kapierte ich, dass das keine Ausnahme war. Eines Nachmittags, als mein Vater schlief, erzählte mir Mom, dass seine Firma ihn von dem Fall abgezogen hatte. Das ging ihm derart an die Nieren, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte. Er zog sich morgens nicht mehr an, kämmte sich nicht mehr und blaffte uns ungeduldig an, wenn wir mit ihm reden wollten – und mir wurde klar, wie sehr ich mich immer darauf verlassen hatte, dass er einfach so war, wie ich ihn kannte: der gut gelaunte, kalauernde Vater, den ich als so selbstverständlich angesehen hatte.
Doch dann hatte ich eine Idee. Leland und Fred waren beide einverstanden, und wir organisierten alles, während mein Dad am späten Nachmittag sein Nickerchen hielt. Als er aufwachte, half Warren ihm nach draußen, wo Kino unterm Sternenzelt in der Edwards-Familienausgabe aufgebaut war. Leland hatte sich bereit erklärt, den Projektor zu bedienen, und wir hatten auf der Wiese unten am Wasser hinter
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