Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Bedürfnis, mit den letzten Worten, die mein Vater an mich geschrieben hatte, alleine zu sein. »Sei nicht böse«, sagte ich und schob meinen Stuhl ein Stück zurück. »Aber …«
»Geh nur«, sagte meine Mutter leise. »Ich bin hier, falls du über irgendwas reden willst, okay?«
Ich nickte und stand auf. »Danke, Mom.« Unsicher nahm ich den Umschlag und ging. Für jeden anderen wäre er völlig wertlos gewesen, aber für mich gab es gerade nichts auf der Welt, was mir mehr bedeutete. Unversehens fand ich mich auf dem Steg wieder, der einsam und verlassen war. Nur die Nachmittagssonne glitzerte auf dem Wasser.
Ich streifte meine Flip-Flops ab und lief barfuß über diehölzernen Planken. Ich spürte die Sonnenwärme unter meinen Füßen und musste daran denken, dass der August schon zur Hälfte vorüber war, dass der Sommer allmählich zu Ende ging und dass das Barfuß-Wetter sicher schon viel zu bald vorbei sein würde.
Ich ging bis ans Ende des Stegs, setzte mich in den Schneidersitz und stellte meine Tasche neben mir ab. Dann atmete ich tief durch und öffnete den Brief.
Ich hatte mehrere Blätter Papier erwartet. Daher überraschte es mich, in dem Umschlag – wie bei einer russischen Matroschkapuppe – eine Vielzahl kleinerer Umschläge vorzufinden. Ich schüttelte sie heraus. Jeder einzelne von ihnen war zugeklebt und mit der sauberen, leicht nach rechts geneigten Handschrift meines Vaters beschriftet: Highschool-Abschluss. College-Abschluss. Wenn du deinen Abschluss / Doktortitel in Jura / Ausdruckstanz in der Tasche hast. An deinem Hochzeitstag. Heute.
Immer noch etwas ungläubig schob ich sie hin und her und nahm schließlich den Heute- Umschlag zur Hand. Die anderen steckte ich sorgfältig zurück in den größeren Umschlag, den ich mit der kleinen Metallklammer verschloss und sorgfältig in meiner Tasche verstaute. Zur Sicherheit legte ich noch mein Portemonnaie und mein Handy obendrauf.
Dann öffnete ich den Brief, nahm einen tiefen Atemzug und begann zu lesen.
Kapitel 39
Hallo, Kleines! Was gibt’s Neues?
Wenn du das liest, habe ich zu meinem allergrößten Bedauern ein paar Jahrzehnte zu früh das Zeitliche gesegnet. Es tut mir so unendlich leid, Taylor, dass ich dir das angetan habe. Wenn es nach mir gegangen wäre, wenn ich einen Einfluss darauf gehabt hätte, dann hätte ich auf keinen Fall zugelassen, dass ich von euch getrennt werde – das weißt du hoffentlich, ja? Ich hätte mich mit Händen und Füßen gegen jeden gewehrt, der das versucht.
Ich hoffe, du hast inzwischen erfahren, dass ich versuchen werde, dir so gut es geht nahe zu sein und in den nächsten Jahren mit meinen Ratschlägen zur Seite zu stehen. Hoffentlich können dir manche davon weiterhelfen. Ich bedauere es so sehr, dich so früh verlassen zu müssen. Vor allem deshalb, weil ich nie erleben werde, was aus dir mal werden wird. Denn ich habe das Gefühl, dass du, meine Tochter, Großes vollbringen wirst. Vielleicht verdrehst du jetzt die Augen, aber ich weiß es. Du bist mein Herzenskind, und ich bin mir sicher, dass ich mal stolz auf dich sein kann. Und ich bin es schon, jeden Tag, einfach weil du so bist, wie du bist. Du wirst Freundschaften schließen, dich amüsieren, lernen und deine Spuren in der Welt hinterlassen – da mache ich mir keine Sorgen. Das Einzige, was mich ein bisschen beunruhigt, ist dein Herz.
Mir ist aufgefallen, dass du dazu neigst, vor dem wegzulaufen, was uns auf der Welt die größte Angst einjagen kann – vor Liebe und Vertrauen. Und ich fände es ganz schrecklich, wenn mein vorzeitiges Ende irgendwie bewirken würde, dass du dein Herz verschließt oder dir die Chance auf Liebe verwehrst. (Und du willst mich doch nicht unglücklich machen, denn ansonsten müsste ich mal über das Herumspuken nachdenken.)
Aber du hast auf jeden Fall ein großes und wunderbares und starkes Herz, das du unbedingt an jemanden verschenken solltest, der es verdient hat. Wenn man weiß, dass man das nächste Monatsblatt im Kalender nicht mehr umblättern wird, kann man das einschätzen. Und außerdem ist mir klar geworden, dass die Beatles Unrecht hatten. Liebe ist nicht das Einzige, was man braucht, sondern das Einzige, was wirklich zählt.
Vielleicht fürchtest du dich davor. Aber ich weiß, dass du es hinbekommst. Denk daran, dass ich bei dir bin, wenn ich es irgendwie einrichten kann. Und vergiss nicht, dass ich dich immer sehr, sehr lieb hatte – und dich immer lieb haben werde.
Dad
Ich ließ den
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