Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Blick über die Menge schweifen und sah ganz hinten Davy und Henry stehen. Er trug einen Anzug, den ich an ihm noch nie gesehen hatte, und sein Blick war auf mich gerichtet – so wohlwollend und ermutigend, dass ich irgendwie das Selbstvertrauen aufbrachte, um anzufangen.
Und während ich die Trauergäste ansah, fiel mir auf, dass ich gar nicht in Panik verfiel. Weder waren meine Hände schweißnass, noch musste ich nach Worten ringen. Ich würde einfach nur die Wahrheit sagen – es war eigentlich ganz einfach.
»Ich habe meinen Vater immer sehr gern gehabt«, sagte ich mit viel kräftigerer Stimme als erwartet. »Aber richtig kennen gelernt habe ich ihn erst diesen Sommer. Da habe ich begriffen, wie viel er mir mein ganzes Leben lang beigebracht hat.« Ich holte tief Luft, aber nicht vor Aufregung, sondern weil mir die Tränen kamen und ich mit ihnen erst mal fertigwerden wollte. »Zum Beispiel, wie wichtig grausame Kalauer sind.« Darüber lachten die Leute, und ich wurde ein bisschen ruhiger. »Und dass man immer Eis essen sollte, wenn man die Gelegenheit dazu hat – auch mal kurz vorm Abendessen.« Ich musste schlucken. »Aber diesen Sommer habe ich von ihm vor allem etwas über Mut gelernt. Er war so mutig, angesichts dessen, was ihm bevorstand. Er ist nicht weggelaufen und war sogar so mutig zuzugeben, dass er Angst hatte.« Ich wischte mir mit der Hand übers Gesicht und holte noch einmal mühsam Luft, um zum Ende zu kommen.
»Ich bin so froh über die Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte, obwohl …« Vor meinen Augen verschwamm alles und ich hatte einen Kloß im Hals. »Obwohl es nicht genug war«, fuhr ich fort. »Nicht mal annähernd genug.«
Halb blind vor Tränen stolperte ich zurück zu meinem Platz. Der Pfarrer sprach noch ein paar Worte und dann sang Jackson Browne. Zu meiner Überraschung war es Warren, der mir den Arm um die Schultern legte, damit ich mich weinend an ihn lehnen konnte.
Zum Schluss wurde noch zum Empfang bei uns zu Hause eingeladen, und dann gingen die Anwesenden feierlich am Sarg vorbei. Ich blieb mit Murphy auf dem Schoß bis zum Schluss sitzen und wusste, dass ich mich von Dad schon unter dem Sternenhimmel verabschiedet hatte. Als mein Großvater in tadelloser Haltung in seiner Uniform an den Sarg trat, sah ich, wie er die kleine Figur hineinlegte, an der er die ganze Woche geschnitzt hatte. Es war ein Robin , eine Wanderdrossel, mit zum Flug ausgebreiteten Flügeln.
Kapitel 38
Ich fuhr in die Einfahrt, stellte den Motor ab und stieß einen Seufzer aus. Gerade hatte ich meinen Großvater mit seinem Teleskop an der Bushaltestelle abgesetzt. Es war mir viel schwerergefallen, mich von ihm zu verabschieden, als ich angenommen hatte. Außerdem waren es in letzter Zeit sowieso viel zu viele Abschiede gewesen.
In den Tagen nach der Beerdigung hatten wir allmählich wieder Gewohnheiten der vorangegangenen Wochen aufgenommen. Aber statt Risiko zu spielen oder Filme anzusehen, sprachen wir über meinen Vater. Und mit jeder weiteren Geschichte verblassten die Erinnerungen an seine Krankheitszeit ein bisschen mehr, sodass ich allmählich wieder so an ihn denken konnte, wie er mein ganzes Leben lang gewesen war, nicht nur so krank wie in diesem Sommer.
Ich war innerlich noch nicht wieder besonders stabil – schon kleinste Ereignisse konnten bewirken, dass ich völlig unerwartet in Tränen ausbrach. Zum Beispiel, als ich eins seiner sauberen Taschentücher in der Wäsche fand und überhaupt nicht wusste, was ich damit machen sollte.
Aber heute, als ich vom Bus wiedergekommen war, fühlte ich mich schon wieder ein bisschen besser. Ich lief barfuß durchdie Einfahrt und traf auf der Veranda auf meine Mutter, die dort am Tisch saß und einen braunen Briefumschlag vor sich liegen hatte.
»Hallo«, sagte ich, setzte mich zu ihr und musterte den Umschlag. »Was ist denn das?« Der Anblick machte mich irgendwie nervös. Meine Mutter drehte ihn um, und jetzt sah ich, dass in der Handschrift meines Vaters Taylor daraufgeschrieben war. Dieser Anblick verschlug mir den Atem, und ich schaute meine Mutter ratlos an.
Sie schob ihn mir über den Tisch. »Ganz offensichtlich war das sein geheimnisvolles Projekt. Ich hab sie oben im Schrank gefunden. Er hat uns allen solche Briefe geschrieben.«
Ich nahm den Umschlag in die Hand und fuhr mit den Fingern über die Stelle, wo er meinen Namen geschrieben hatte. Ich wollte meiner Mutter ja nicht wehtun, aber plötzlich spürte ich das
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