Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
knirschten auf dem Kies, und Stimmengewirr drang aus dem Wohnzimmer, Stimmen in normaler Lautstärke, obwohl wir sonst immer leise sprachen, damit mein Vater schlafen konnte.
Keiner nahm Rücksicht darauf, dass er schlief. Das musste bedeuten …
Nein.
Das dachte ich, so intensiv ich konnte. Ich hatte die Augen noch nicht geöffnet und presste sie jetzt ganz fest zu. Wenn ich sie nicht aufmachte, konnte ich überall sein. Zu Hause in meinem Bett in Stanwich. Ich würde am liebsten die Zeit zurückdrehen, um fünf Monate zum Beispiel, und all das wäre nur ein schrecklicher Traum. Dann könnte ich nachher einfach nach unten gehen, wo mein Dad gerade einen Bagel aß und meine Mutter ihn daran erinnerte, dass er eigentlich ein bisschen abnehmen wollte. Ich würde ihnen von meinem Traum erzählen, während er sich schon auflöste und die Einzelheiten verblassten … nur ein wirrer Traum, Gott sei Dank …
»Taylor.« Das war Warren mit rissiger, rauer Stimme. Ich fühlte, wie mein Gesicht sich verzog, mein Kinn bebte und, obwohl meine Augen immer noch fest geschlossen waren, zwei Tränen unter dem rechten Lid hervorquollen.
»Nein«, sagte ich, drehte mich von ihm weg, hin zum Fenster und zog die Knie an. Wenn ich die Augen aufmachte, wurde es real. Wenn ich die Augen aufmachte, gab es kein Zurück mehr zu dem Moment, als das noch nicht wahr war. Wenn ich die Augen aufmachte, lebte mein Vater nicht mehr.
»Steh auf«, drängte Warren. Es klang müde.
»Erzähl mir das von der Coca-Cola«, sagte ich. »Was wollten die eigentlich herstellen?«
»Aspirin«, antwortete Warren mit etwas Verzögerung. »Es war einfach nur ein gewaltiger Irrtum.«
Ich machte die Augen auf. Strahlendes Sonnenlicht durchflutete mein Zimmer und mich packte die Wut. Es hätte kein sonniger Tag sein dürfen. Es sollte finstere, stürmische Nacht sein. Ich schaute zu Warren. Sein Gesicht war ganz fleckig und in den Händen knetete er ein Stofftaschentuch. »Dad«, sagte ich, ohne dass es eine Frage war.
Warren nickte, und ich konnte sehen, wie er schluckte. »Paul sagt, es muss heute früh in der Morgendämmerung passiert sein. Er ist ganz friedlich eingeschlafen.«
Da konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich versuchte nicht mal aufzuhören. Ich hatte das Gefühl, niemals wieder aufhören zu können. Wenn das hier wahr war, konnte ich mir nicht vorstellen, irgendwann einmal nicht mehr weinen zu wollen.
»Komm lieber mit«, sagte Warren. Seine Hand lag auf dem Türknauf. »Damit du dich noch verabschieden kannst.«
Ich nickte und folgte kurz darauf meinem Bruder. Die Sachen, die ich am Abend einfach auf den Fußboden geworfen hatte, lagen noch da. Mein Schminkzeug stand noch auf der Kommode. Wie konnten diese Sachen, diese blöden unwichtigen Dinge, noch da sein, wenn irgendwann in der Morgendämmerung die Welt untergegangen war? Wie konnten sie noch da sein und mein Vater nicht?
Ich ging hinaus in den Flur und sah meine Familie. Mein Großvater war in der Küche. Meine Mutter stand neben dem Pflegebett und hatte den Arm um Gelsey gelegt. Warren lehnte mit dem Rücken am Sofa. Und in seinem Krankenbett lag mein Vater, mit offenem Mund und geschlossenen Augen.
Er atmete nicht mehr.
Er war nicht mehr da.
Es war so unspektakulär – schon tausendmal im Film gesehen. Aber ich starrte nur auf meinen Vater, der reglos im Bett lag, und konnte es nicht begreifen. Ich hatte meinen Vater nie anders gekannt als lebendig, atmend, lachend, grässliche Kalauer reißend, mit einer raumgreifenden Stimme, unser persönlicher Football-Trainer. Die Tatsache, dass er plötzlich nicht mehr lebendigwar – dass er so starr dalag, zwar körperlich noch da, aber eben nicht mehr als Person anwesend –, vermochte ich nicht zu erfassen. Als ich auf seine geschlossenen Augenlider schaute, begriff ich, dass ich seine Augen nie wieder sehen würde. Dass er mich nie wieder anschauen würde. Dass er tot war.
Jetzt weinte ich haltlos, und obwohl ich gar nicht bemerkt hatte, dass meine Mutter sich bewegt hatte, stand sie plötzlich neben mir und zog mich an sich. Sie sagte nicht, dass alles wieder gut würde. Ich wusste in dem Moment, dass von nun an alles anders war – dass heute der Tag war, der fortan mein Leben in ein Davor und ein Danach teilte.
Doch in diesem Moment weinte ich einfach nur an ihrer Schulter, und sie umarmte mich ganz fest, als ob sie mir zumindest so sagen wollte, dass ich nicht allein war.
Kapitel 37
Vier Tage später war die
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