Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
war so lange her, aber trotzdem waren die Auswirkungen spürbar, selbst nach so langer Zeit noch. »Ich wollte nicht, dass unsere Freundschaft darunter leidet«, murmelte ich schließlich.
»Ah.« Lucy nickte und sagte mit unbewegter Miene: »Na, das hat ja richtig gut funktioniert.« Unsere Blicke kreuzten sich und in dem Moment prusteten wir beide los vor Lachen. »Hast du das Henry schon erzählt?«
»Nein«, seufzte ich und sah sie wieder an. Lucy zuckte die Schultern.
»Wär aber sicher keine schlechte Idee.« An ihrem Blick sah ich, dass sie wusste, was ich dachte, selbst nach fünf Jahren noch, selbst hier im Halbdunkel. »Und bloß so am Rande: Die meisten kippen nicht gleich aus den Latschen, wenn sie erfahren, dass ihr Freund aus Kindertagen mal mit jemand anderem gegangen ist«, fügte sie noch hinzu. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Nur so der Vollständigkeit halber.«
Darauf wollte ich nicht unbedingt antworten und ging lieber weiter zum Steg. Lucy blieb neben mir. »Sag mal«, sagte sie einen Moment später, und an der Art, wie sie zögerte, spürte ich, dass sie sorgfältig nach Worten suchte. »Ist mit deinem Dad alles okay?«
Obwohl ich die Frage durchaus erwartet hatte, drückte sie mir den Brustkorb zusammen. Es war, als ob jemand mein Herz quetschte und ich nur schwer atmen konnte. »Er ist krank«, sagte ich und fand es furchtbar, wie meine Stimme sogar bei dieser einfachen, offensichtlichen Feststellung zitterte. Ich spürte, dass gleich hinter meinen Augen die Tränen lauerten. Eigentlich waren sie die ganze Zeit schon da, seit wir es wussten, und warteten nur auf ihre Gelegenheit.
Lucy schaute mich an. Ich war ihr unendlich dankbar, dass sie nicht fragte: »Und was hat er?« – dass irgendwas sie davon abhielt. »Er hat Krebs.« Zum ersten Mal hatte ich es ausgesprochen. Ich schluckte und zwang mich weiterzureden, das Wort zu sagen, mit dem ich noch vor ein paar Monaten überhaupt nichts anfangen konnte und das ich jetzt so abgrundtief hasste. »Bauchspeicheldrüsenkrebs.«
»Das tut mir so leid«, sagte Lucy und an ihrer Stimme hörte ich, dass sie das ernst meinte. »Gibt es …«, begann sie, schaute mich dabei aber nicht an. Ich spürte ihre Unsicherheit. »Ich meine, wird er …« Dann sah sie doch zu mir und holte tief Luft. »Wieder gesund?«
Ich fühlte, wie mein Gesicht nachgab und mein Kinn anfing zu beben. Ich schüttelte den Kopf. Tränen überfluteten meine Augen. »Nein«, flüsterte ich heiser. Neben mir holte Lucy ganz tief Luft. Ich ging weiter in Richtung Steg, den Blick starr geradeaus auf das Wasser gerichtet, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Mit leicht nach hinten gelegtem Kopf versuchte ich, nicht zu blinzeln. Wenn ich jetzt blinzelte, wäre alles zu spät. Dann würde ich losheulen. Und ich hatte das Gefühl, dann sehr, sehr lange nicht mehr aufhören zu können.
»Oh mein Gott«, murmelte sie. »Oh mein Gott, Taylor, das tut mir so leid. Das ist einfach …« Sie sprach nicht weiter, als ob Worte nicht beschreiben konnten, was sie sagen wollte.
Schweigend gingen wir weiter, ich versuchte die Tränen zurückzuhalten, und dann spürte ich, wie Lucys Finger meinen Handrücken streiften und wie sie meine Hand nahm und festhielt.
Und als sie das tat, fiel die erste heiße Träne auf meine Wange, mein Kinn entzog sich wieder meiner Kontrolle und zitterte. Ich sah hinaus auf das Wasser. Und mir wurde klar, dass ich nicht wegkonnte, nicht fliehen konnte. Dass ich hierbleiben und dieser furchtbaren Wahrheit ins Gesicht sehen musste. Als immer mehr Tränen kamen, wurde mir bewusst, wie müde ich war. Es war eine Müdigkeit, die nichts mit der Uhrzeit zu tun hatte. Ich war so müde, vor all dem davonzulaufen, nicht darüber zu reden, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, obwohl es noch nie in meinem Leben so schlimm gewesen war. Ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber Lucy drückte sie ganz fest und ließ sie bis zum Ende des Stegs nicht wieder los. Und vielleicht war genau das – dass sie mir so deutlich ihre Unterstützung zeigte – der Grund, warum ich jetzt endlich weinen konnte.
Als ich mich ein bisschen beruhigt hatte, ging Lucy zurück, um ihr Kajak zu holen. Sie zog es über den Steg, nahm Paddel und Taschenlampe heraus und legte das Boot ganz am Ende des Stegs ab. »Kann ich irgendwas für dich tun?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich und rieb mir das Gesicht. »Aber danke dir.«
Doch so einfach gab Lucy nicht auf. Eindringlich sah
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