Vergiss die Toten nicht
das tat es auch, allerdings nur kurz. Inzwischen hat sie nämlich einen Anruf von ihrem Vermieter bekommen. Offenbar will er, dass ihre Möbel aus der Wohnung verschwinden, und das hat sie schrecklich aufgeregt.
Ich fürchte, sie wird ihre Wut an Ihnen auslassen.«
Auf dem Weg den Flur entlang kamen sie an einem kleinen Esszimmer vorbei. Drei Tische waren besetzt. Gerade wurde das Mittagessen serviert. »Unten haben wir noch einen großen Speisesaal, aber manche Bewohner finden es angenehmer, morgens und mittags auf ihrer Etage zu essen. Wir versuchen, es ihnen recht zu machen«, erklärte die Schwester.
»Soweit ich es beurteilen kann, lesen Sie Ihren Gästen jeden Wunsch von den Augen ab«, stellte Nell fest.
»Wir versagen nur in einem Punkt: Wir können sie nicht glücklich machen. Und leider wäre es das, was sie am meisten brauchen. Sie sind alt. Sie haben Schmerzen. Sie vermissen ihre Ehepartner und Kinder. Manche gewöhnen sich an das Leben hier. Andere hingegen nicht, und es ist schrecklich, sie leiden zu sehen. Eine Redensart besagt, dass sich die Eigenschaften eines Menschen im Alter verstärken. Unserer Erfahrung nach haben Leute, die schon immer optimistisch eingestellt waren, die besten Chancen, einigermaßen zufrieden zu werden.«
Fast hatten sie Mrs. Johnsons Zimmer erreicht. »Vermutlich hat Mrs. Johnson sich nicht gut eingewöhnt«, bemerkte Nel .
»Sie weiß, dass sie es ausgezeichnet getroffen hat. Doch wie die meisten Menschen wäre sie lieber zu Hause in ihren eigenen vier Wänden. Und außerdem erträgt sie es nicht, dass sie nicht im Mittelpunkt steht. Ich bin sicher, Sie werden es von ihr selbst erfahren.«
Die Tür zu Mrs. Johsons Zimmer stand einen Spalt weit hoffen. Die Schwester klopfte an. »Besuch für Sie, Mrs.
Johnson.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie die Tür auf. Nell folgte ihr hinein.
Rhoda Johnson lag im Schlafzimmer der kleinen Wohnung auf ihrem Bett. Sie hatte sich auf Kissen gestützt und mit einer Wolldecke zugedeckt.
Als die beiden Frauen hereinkamen, schlug sie die Augen auf.
»Nell MacDermott?«, fragte sie.
»Ja.« Entsetzt bemerkte Nell, wie sich die alte Dame seit ihrem letzten Besuch verändert hatte.
»Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun. Winifred hat mir immer Kuchen in einem Einkaufszentrum etwa anderthalb Kilometer von hier geholt. Könnten Sie das für mich erledigen?
Das Essen hier bringe ich nicht runter, es ist zu fad.«
Oh, Mann, dachte Nel . »Aber gerne, Mrs. Johnson.«
»Unterhalten Sie sich gut«, sagte die Krankenschwester fröhlich.
Nel holte sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett.
»Offenbar fühlen Sie sich heute nicht wohl, Mrs. Johnson«, meinte sie.
»Es geht so. Aber die Leute hier sind nicht sehr freundlich. Sie wissen, dass ich aus einfachen Verhältnissen stamme, und deshalb zeigen sie mir die kalte Schulter.«
»Das würde ich nicht so sehen. Die Schwester, die mich gerade hergebracht hat, hat vorgeschlagen, dass ich Sie heute besuche, weil Sie ein wenig niedergeschlagen sind. Und die Dame, die mich letzte Woche begleitet hat, schien Sie auch sehr gern zu haben.«
»Sie sind in Ordnung. Aber die Leute vom Zimmerservice und das Reinigungspersonal sind ziemlich unfreundlich, seit Winifred nicht mehr da ist und ihnen immer wieder mal zwanzig Dollar zusteckt.«
»Das war sehr großzügig von ihr.«
»Und wie sich herausgestellt hat, eine Geldverschwendung.
Man sollte doch meinen, dass man nach ihrem Tod ein wenig Mitleid mit mir hätte.«
Rhoda Johnson brach in Tränen aus. »Das war schon immer so… die Leute nutzen mich aus. Seit zweiundvierzig Jahren habe ich nun schon diese Wohnung, und nun verlangt der Vermieter, dass ich in zwei Wochen ausgezogen bin. In den Schränken hängen meine Kleider. Das gute Porzellan meiner Mutter steht noch da. Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich habe in all den Jahren nicht eine einzige Tasse zerbrochen.«
»Mrs. Johnson, ich muss rasch die Krankenschwester etwas fragen. Ich bin gleich zurück«, sagte Nell.
In weniger als fünf Minuten war sie wieder da. »Gute Nachrichten«, verkündete sie. »Es ist genauso, wie ich gedacht habe. Sie können Ihre eigenen Möbel hierher holen, wenn Sie das möchten. Warum fahren wir nächste Woche nicht gemeinsam in Ihre Wohnung, und Sie suchen sich aus, was Sie gerne mitnehmen wollen. Dann kümmere ich mich darum, dass alles angeliefert wird.«
Rhoda Johnson betrachtete sie argwöhnisch. »Warum tun Sie das?«
»Weil
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