Vergiss die Toten nicht
wir mal. Sie stand in der 28. Straße, auf der Ostseite der Seventh Avenue. Also müsste die Akte im 13. Revier liegen.«
»Ich werde mich noch mal mit dem Schlüssel von Winnie Johnson befassen«, sagte Sclafani. »Wir müssen rauskriegen, bei welcher Bank sich das Schließfach befindet.«
»Wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Wenn es nicht schon zu spät ist«, wiederholte Sclafani.
»Denn falls der achtjährige Junge aus Wilmington Recht haben sollte, hat jemand kurz vor der Explosion die Jacht verlassen. Ich nehme an, dass es sich bei dieser Person um Winifred Johnson handelte. Und die hätte auch ohne Schlüssel an das Schließfach herankommen können.«
»Ist dir klar, dass wir zurzeit Hinweisen folgen, die von einem weitsichtigen Achtjährigen und von einem zehnjährigen Mädchen stammen, das Tagebuch führt?«, seufzte Brennan. »Meine Mutter hat mich schon immer vor diesem Beruf gewarnt.«
75
A
m Freitagmorgen rief Nell im Pflegeheim Old Woods Manor an und erkundigte sich nach Winifred Johnsons Mutter. Sie wurde mit der Schwesternstation im ersten Stock verbunden.
»Sie ist wirklich sehr niedergeschlagen«, sagte die Krankenschwester.
»Winifred
war
eine
ausgesprochen
fürsorgliche Tochter. Jeden Samstag ist sie zu Besuch gekommen. Manchmal sogar abends während der Woche.«
Winifred,
die
fürsorgliche
Tochter.
Winifred,
die
Schwimmerin. Winifred, die Frau mit der Tasche. Winifred, die Geliebte von Harry Reynolds. Wer ist diese Frau wirklich gewesen?, fragte sich Nell. Oder treffen vielleicht alle diese Eigenschaften zu? Befindet sie sich jetzt womöglich in Südamerika oder auf einer dieser karibischen Inseln, die kein Auslieferungsabkommen mit den Vereinigten Staaten haben, selbst wenn die Behörden sie dort aufstöbern?
»Kann ich etwas für Mrs. Johnson tun?«, fragte sie.
»Ich glaube, das Beste wäre, wenn Sie sie besuchen«, erwiderte die Krankenschwester offen. »Sie möchte über ihre Tochter sprechen, und ich fürchte, unsere übrigen Gäste gehen ihr aus dem Weg. Leider nörgelt sie ziemlich viel.«
»Eigentlich wollte ich erst nächste Woche kommen«, erwiderte Nel . Sie möchte über ihre Tochter sprechen, dachte sie. Könnte Mrs. Johnson vielleicht etwas wissen, das mich zu Winifred führt – vorausgesetzt, dass sie noch lebt?
»Aber unter diesen Umständen besuche ich sie schon heute«, versprach sie. »Ich bin gegen Mittag da.«
Sie legte auf und ging zum Fenster. Es war ein grauer, regnerischer Morgen. Nach dem Aufwachen hatte sie lange mit geschlossenen Augen mit Bett gelegen und die Ereignisse der letzten beiden Wochen Revue passieren lassen.
Sie hatte sich Adams Gesicht bis in die kleinste Einzelheit vorgestellt. An jenem letzten Morgen hatte es nicht die Spur des Lächelns gezeigt, das sie bei ihrer ersten Begegnung so begeistert hatte. Er war angespannt und nervös gewesen und hatte so dringend das Haus verlassen wollen, dass er ohne Jacke und Aktenkoffer losgegangen war.
Ohne die Jacke mit dem Schließfachschlüssel Nummer 332 in der Tasche.
Ich sollte diesen Schlüssel der Polizei übergeben, überlegte Nel , als sie ins Bad ging und die Dusche anstellte. Das ist meine Pflicht. Allerdings nicht, solange ich nicht… Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
Denn inzwischen war ihr eine – ebenso absurde wie abwegige
– Idee gekommen, die sie nur mithilfe des Schlüssels bestätigen konnte.
Mit dem zweiten Schlüssel finden sie die Bank auch nicht schneller, sagte sie sich, als sie sich unter die dampfende Dusche stellte.
Fast hätte sie Dan ihre Pläne anvertraut, doch am vergangenen Abend hatte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Er hatte das Bedürfnis gehabt, über seine Trauer und seinen Schmerz zu sprechen. Stockend und mit zitternder Stimme hatte er ihr von dem Unfall erzählt, nach dem seine Mutter verschwunden war.
Von den langen Monaten im Krankenhaus, in denen er ständig darum gebetet hatte, die Tür möge aufgehen und sie ins Zimmer kommen. Er hatte darüber geredet, wie die Liebe seiner Großeltern ihm geholfen hatte, seine Wunden an Körper und Seele zu heilen.
Schließlich sagte er: »Ich weiß, dass ich meinen Frieden finden werde, nachdem ich sie in unser Familiengrab in Maryland habe umbetten lassen. Dann werde ich nicht mehr nachts aufwachen und mich fragen, ob sie frierend, hungrig oder krank irgendwo auf der Straße herumirrt.«
Ich habe ihm geantwortet, ich glaubte wirklich daran, dass die Menschen, die wir
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