Vergiss die Toten nicht
Sie Ihre Tochter verloren haben und weil Sie mir leid tun«, erwiderte Nell. »Und es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie Ihre Lieblingsstücke um sich haben. Ich würde Ihnen gerne dabei helfen.«
»Vielleicht glauben Sie, mir etwas schuldig zu sein, weil Winifred auf der Jacht Ihres Mannes war. Wenn Sie bei Walters und Arsdale geblieben und nach der Arbeit gleich nach Hause gegangen wäre, würde sie heute noch leben!«
Rhoda Johnsons Gesicht verzerrte sich vor Schluchzen. Tränen flossen ihr über die Wangen. »Ich vermisse Winifred so sehr.
Keinen einzigen Besuch am Samstag hat sie ausfallen lassen –
nicht ein Mal. Abends während der Woche hat sie es nicht immer geschafft, aber der Samstag war immer unser Tag. Das letzte Mal habe ich sie am Abend vor ihrem Tod gesehen.«
»Das wäre der Donnerstag vor zwei Wochen gewesen«, meinte Nel . »Haben Sie sich gut unterhalten?«
»Sie war ein wenig nervös und sagte, sie habe eigentlich noch zur Bank gehen wollen, sei aber zu spät dran gewesen.«
Automatisch stellte Nell die nächste Frage: »Erinnern Sie sich noch, um wie viel Uhr sie an diesem Abend kam?«
»Es war noch nicht richtig Abend. Erst fünf Uhr. Das weiß ich noch, weil es gerade Essen gab, als sie eintraf. Ich esse immer um fünf.«
Und Banken schließen um fünf, dachte Nell. Winifred hätte genug Zeit gehabt, zu einer Bank in Manhattan zu gehen, bevor sie nach White Plains fuhr. Also wollte sie offenbar zu einer Bank hier in der Nähe.
Rhoda Johnson wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich weiß, ich sollte mich nicht ständig beklagen. Ich werde so und so nicht mehr lange leben. Mein Herz macht nicht mehr mit, und es wird immer schlimmer. Ich habe Winifred öfter gefragt, was sie tun würde, wenn ich einmal nicht mehr bin. Und wissen Sie, was sie geantwortet hat?«
Nel wartete ab.
»Sie sagte, sie würde ihren Job kündigen und das erstbeste Flugzeug irgendwohin nehmen. Ich hielt das für einen Witz.« Sie seufzte. »Ich darf Sie nicht weiter aufhalten, Nel . Ihr Besuch hat mir sehr gut getan. Sie hatten mir doch versprochen, mir heute noch den Kuchen zu besorgen.«
Die Bäckerei befand sich in einem Einkaufszentrum, etwa zehn Autominuten vom Pflegeheim entfernt. Nell kaufte den Kuchen und verharrte dann eine Weile auf dem Gehweg vor der Bäckerei. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Himmel war noch immer bewölkt. In rechtem Winkel zum Einkaufszentrum stand eine große Bank mit einer eigenen kreisförmigen Auffahrt und einem separaten Parkplatz. Warum nicht?, dachte Nell, ging zum Auto und beschloss, dort den Anfang zu machen.
Sie
fuhr
zur
Bank,
parkte
und
trat
ein.
»SCHLIESS-FÄCHER« verkündete ein Metallschild auf der Theke eines Schalters am Ende des Raums.
Nel schlenderte zu dem Schalter hinüber und öffnete ihre Umhängetasche. Ihrer Brieftasche entnahm sie den kleinen Umschlag, den sie in der Innentasche von Adams Sakko gefunden hatte.
Dann ließ sie den Schlüssel auf die Theke gleiten. Ehe sie fragen konnte, ob er zu einem Schließfach dieser Bank gehörte, lächelte die Angestellte und reichte ihr ein Formular, das sie unterschreiben sollte.
»Ich würde gerne den Filialleiter sprechen«, sagte Nell ruhig.
Arlene Barron, die Filialleiterin, war eine gut aussehende Schwarze Anfang vierzig. »Dieser Schlüssel steht in Zusammenhang mit polizeilichen Ermittlungen«, erklärte Nell.
»Ich muss sofort die Staatsanwaltschaft in Manhattan anrufen.«
Man teilte ihr mit, Sclafani und Brennan befänden sich nicht im Haus, würden aber jeden Moment zurückerwartet. Nell hinterließ die Nachricht, sie habe das Schließfach gefunden, zu dem der Schlüssel Nummer 332 passte, und nannte Arlene Barrons Namen und Telefonnummer.
»Bestimmt kommen sie mit einem Durchsuchungsbefehl her, vielleicht sogar noch heute während der Schalterstunden«, meinte Nel .
»Ich verstehe.«
»Würde es gegen den Datenschutz verstoßen, mir zu sagen, in wessen Namen das Schließfach gemietet wurde?«
Barron zögerte. »Ich weiß nicht, ob…«
»Ist es nur unter dem Namen einer Frau eingetragen, oder ist Harry Reynolds ebenfalls zeichnungsberechtigt?«, unterbrach sie Nel .
»Ich dürfte diese Information eigentlich nicht weitergeben«, erwiderte Arlene Barron, nickte dabei aber unmerklich.
»Das habe ich mir gedacht.« Nell stand auf. »Bitte verraten Sie mir noch eines: Ist das Schließfach seit dem 9. Juni geöffnet worden?«
»Darüber führen wir keine
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