Vergiss die Toten nicht
anzuhalten, das gerade den Broadway entlangfuhr.
Jetzt oder nie, sagte sich Dan und lief los.
»Nell.«
Nel blieb stehen. Der hoch gewachsene, blonde Jogger im langärmeligen Sweatshirt kam ihr bekannt vor.
»Dan Minor, Nell. Wir sind uns im Weißen Haus begegnet.
Vor ein paar Jahren.«
Sie lächelten einander an. »Sie müssen zugeben, dass das ein besserer Einstieg ist als ›Kennen wir uns nicht?‹«, sagte Dan und fügte dann rasch hinzu: »Sie waren mit Ihrem Großvater dort.
Ich war Gast des Kongressabgeordneten Dade.«
Ganz sicher habe ich ihn schon einmal getroffen, dachte Nell und betrachtete das sympathische Gesicht ihres Gegenübers.
Dann fiel es ihr wieder ein. »Ach ja, ich erinnere mich. Sie sind Arzt«, meinte sie. »Kinderchirurg. Sie haben in Georgetown studiert.«
»Richtig.« Und wie mache ich jetzt weiter?, fragte sich Dan.
Er sah, wie Nell MacDermotts spontanes Lächeln verflog. »Ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid mir der Tod Ihres Mannes tut«, sagte er rasch.
»Danke.«
»Junge Frau, wollen Sie jetzt mit dem Taxi fahren oder nicht?«
Inzwischen hatte der Taxifahrer, den Nel herangewinkt hatte, am Straßenrand gehalten.
»Ja, Augenblick bitte.« Sie hielt Dan die Hand hin. »Schön, Sie wiederzusehen, Dan. Hat mich sehr gefreut.«
Dan blickte dem Taxi nach, das den Broadway überquerte und auf der 57. Straße nach Osten fuhr. Wie lädt man eine Frau, die seit genau einer Woche Witwe ist, zum Essen ein?, fragte er sich.
38
A
m Freitagnachmittag wurde Ben Tucker in Philadelphia in die Praxis der Kinderpsychologin Dr. Megan Crowley gebracht.
Er saß allein im Wartezimmer, während seine Mutter sich in einem anderen Raum mit der Ärztin unterhielt. Ben wusste, dass auch er mit der Ärztin würde reden müssen, aber er wollte nicht, denn er war sicher, dass sie ihn nach dem Traum fragen würde.
Und darüber konnte er nicht sprechen.
Inzwischen kam der Traum jede Nacht. Manchmal befürchtete Ben sogar tagsüber, die Schlange könnte hinter der nächsten Ecke lauern und ihn anspringen.
Ständig versuchten Mama und Papa, ihm zu erklären, dass diese Bilder nicht die Wirklichkeit waren und dass das alles nur an dem Schock lag. Sie sagten, es sei schwer für kleine Kinder, so eine schreckliche Explosion mit anzusehen, bei der Menschen gestorben seien. Und sie behaupteten, die Ärztin werde dafür sorgen, dass es ihm wieder besser ging.
Doch sie kapierten es einfach nicht. Es war nicht die Explosion, sondern die Schlange.
Dad meinte, er solle an den Besuch bei der Freiheitsstatue denken, wenn er sich an New York erinnerte. Daran, wie lustig es gewesen sei, die vielen Stufen hinaufzuklettern, und an die schöne Aussicht von der Krone aus.
Ben hatte sich wirklich Mühe gegeben. Er hatte sich gezwungen, an Dads langweilige Geschichte zu denken, und sich ausgemalt, wie sein Urgroßvater als Kind Pennys gesammelt hatte, damit man die Freiheitsstatue überhaupt aufstellen konnte.
Er dachte an die vielen Leute, die aus dem Ausland kamen, mit dem Schiff an der Statue vorbeifuhren und zu ihr aufblickten, so froh waren sie, endlich in den Vereinigten Staaten zu sein. Doch so sehr er sich auch darauf konzentrierte, es nutzte nichts. Immer wieder fiel ihm die Schlange ein.
Die Tür öffnete sich, und seine Mutter kam mit einer Dame heraus.
»Hallo«, sagte die Dame. »Ich bin Dr. Megan.«
Sie war noch jung, ganz im Unterschied zu Dr. Peterson, dem Kinderarzt, der schon uralt war.
»Dr. Megan würde sich gerne mit dir unterhalten, Benjy«, sagte seine Mutter.
»Kommst du mit?«, fragte Ben und bekam große Angst.
»Nein, ich warte hier draußen. Keine Sorge, alles wird gut.
Wir sind gleich wieder zusammen, und dann kriegst du eine Belohnung.«
Ben sah die Ärztin an. Er wusste, dass er sie begleiten musste.
Aber über die Schlange rede ich nicht, nahm er sich vor.
Doch Dr. Megan überraschte ihn. Sie wollte gar nicht über die Schlange sprechen. Stattdessen erkundigte sie sich nach der Schule, und er antwortete, er sei in der dritten Klasse. Dann fragte sie ihn nach seiner Lieblingssportart. Ben erwiderte, Ringen mache ihm den größten Spaß, und er erzählte, wie er vor ein paar Tagen seinen Gegner in dreißig Sekunden auf die Matte gezwungen und den Kampf gewonnen hatte. Anschließend plauderten sie über den Musikunterricht, und Ben erzählte, dass er nicht genug übe, sich heute beim Flötespielen aber wacker geschlagen habe.
Sie redeten über dies und jenes, und sie
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