Vergiss die Toten nicht
ihre quälenden Fragen auf, die Sinn ergab, die sie jedoch bis ins Mark erschaudern ließ: Adam wusste, dass die Presse und meine politischen Gegner im Fall einer Kandidatur unsere Vergangenheit gründlich unter die Lupe genommen und nach Leichen im Keller gesucht hätten. Ich bin sicher, dass ich eine weiße Weste habe. Wovor also hatte Adam Angst?
Ist vielleicht doch etwas Wahres an den Gerüchten, er habe Schmiergelder angenommen? War er vielleicht für den Pfusch an dem Haus in der Lexington Avenue verantwortlich, dessen Fassade vor ein paar Tagen eingestürzt ist?
Um sich von diesen unangenehmen Gedanken abzulenken, beschloss Nell, eine der Aufgaben in Angriff zu nehmen, die sie schon eine Weile vor sich herschob. Der Hausmeister hatte ihr einen Stapel Kartons gebracht, in die sie Adams Kleider verpacken konnte. Also ging Nell ins Gästezimmer und stellte den ersten Karton aufs Bett. Bald waren ordentlich gefaltete Unterwäsche und Socken darin verschwunden.
Zweifel erzeugen immer wieder neue Zweifel, dachte Nell.
Während sie Adams Sachen in den Kartons verstaute, beschloss sie, sich der Frage zu stellen, der sie schon seit einigen Tagen bewusst auswich: Habe ich Adam wirklich geliebt, oder hatte ich einfach nur das Bedürfnis, mich zu verlieben?
Hätte die anfängliche Begeisterung nachgelassen, wenn wir nicht Hals über Kopf geheiratet hätten? Habe ich nur das in ihm gesehen, was ich sehen wollte ? Warum habe ich ständig die Augen vor der Wahrheit verschlossen? Offen gestanden war unsere Ehe nicht sehr glücklich – wenigstens nicht für mich. Ich habe ihm verübelt, dass ich seinetwegen meine beruflichen Ziele aufgeben musste. Und es tat mir auch nicht leid, wenn Adam die Wochenenden auf seiner Jacht verbrachte, angelte oder einfach nur herumfuhr. Ich war gern allein, und außerdem hatte ich so die Zeit, mich mit Mac zu treffen.
Oder haben meine Zweifel andere Gründe?, überlegte Nell, als sie einen Karton schloss, ihn auf den Boden stellte und zum nächsten griff. Liegt es vielleicht daran, dass ich in meinem Leben schon genug getrauert habe und jetzt nach einem Vorwand suche, um so etwas nicht noch einmal durchmachen zu müssen?
Ich habe gelesen, dass viele Menschen mit Wut reagieren, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Ist das bei mir auch der Fal ?, fragte sie sich.
Ordentlich faltete Nell Freizeitkleidung – Baumwollhosen, Jeans und kurzärmelige Hemden – zusammen und legte sie in den Karton. Als Letztes wurden Krawatten, Taschentücher und Handschuhe weggepackt. Endlich waren alle auf dem Bett herumliegenden Kleidungsstücke verstaut. Nell hatte nicht mehr die Kraft, auch noch den Schrank auszuräumen. Das kann bis morgen warten, beschloss sie.
Am Nachmittag hatte Mrs. Ryan angerufen und darauf bestanden, Nell noch heute zu sehen. Ihre Stimme hatte barsch, ja, fast unhöflich geklungen, sodass Nell die Frau am liebsten in ihre Schranken gewiesen hätte. Allerdings wusste sie, dass Lisa Ryan sehr litt und noch eine Weile brauchen würde, um ihren Verlust zu verarbeiten.
Nel sah auf die Uhr. Es war nach sechs. Lisa Ryan hatte ihren Besuch für halb acht angekündigt. Also hatte Nell noch genug Zeit, sich frisch zu machen und sich ein paar Minuten auszuruhen. Ein Glas Chardonnay wäre jetzt auch nicht zu verachten, dachte sie.
Der Fahrstuhlführer half Lisa, die beiden Pakete in Nells Wohnung zu tragen. »Wo soll ich sie hinstellen, Ms.
MacDermott?«, fragte er.
»Einfach dort drüben«, antwortete Lisa und wies auf den runden Tisch am Fenster, das auf die Park Avenue hinausging.
Der Fahrstuhlführer warf Nell einen Blick zu, und diese nickte.
Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, sagte Lisa trotzig: »Nell, ich habe Albträume, die Polizei könnte mit einem Durchsuchungsbefehl kommen, das verdammte Geld finden und mich vor den Augen meiner Kinder verhaften. Mit Ihnen würde man nie so umspringen. Und deshalb müssen Sie es hier behalten, bis Sie es dem Besitzer zurückgeben können.«
»Lisa, das ist absolut unmöglich«, entgegnete Nell. »Ich freue mich über Ihr Vertrauen, doch dass ich das Geld, das Ihr Mann für illegale Machenschaften erhalten hat, aufbewahre oder weiterleite, kommt überhaupt nicht infrage.«
»Woher wissen Sie, dass Ihr Mann nicht auch in die Sache verwickelt war?«, antwortete Lisa. »Die Umstände, unter denen Jimmy die Stelle bekommen hat, waren doch ziemlich merkwürdig. Er hat seine Bewerbungsunterlagen an sämtliche Baufirmen geschickt,
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