Vergiss die Toten nicht
altern und so verändern lassen, dass es dem entspricht, wie sie laut der Schilderung ihrer Freunde im letzten Sommer aussah.«
MacDermott rechnete nach, dass Dans Mutter etwa sechzig sein musste. Doch die abgezehrte Frau mit dem schulterlangen grauen Haar auf dem Foto wirkte wie achtzig. »Wir werden es vervielfältigen und in der Stadt plakatieren lassen«, versprach er.
»Und ich werde ein paar Jungs, die ohnehin nichts Besseres zu tun haben, an die Akten setzen, um herauszufinden, ob seit September eine unbekannte Frau, auf die diese Beschreibung passt, in einem Armengrab beerdigt wurde.«
Dan stand auf. »Ich muss los. Ich habe Ihre Zeit schon genug in Anspruch genommen, Herr Kongressabgeordneter. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
MacDermott forderte ihn auf, sich wieder zu setzen. »Meine Freunde nennen mich Mac. Hören Sie, es ist halb sechs, Zeit für einen Cocktail. Was möchten Sie?«
Liz Hanley kam unangemeldet herein, als die beiden Männer gerade gemütlich einen sehr trockenen Martini tranken. Sie bemerkten sofort, wie aufgewühlt sie war.
»Nach meinem Besuch bei Bonnie Wilson war ich kurz zu Hause«, sagte sie leise. »Ich war ziemlich durcheinander.«
MacDermott sprang auf. »Was haben Sie, Liz? Sie sind ja ganz blass!«
Auch Dan war aufgestanden. »Ich bin Arzt…«, begann er.
Doch Liz schüttelte den Kopf und ließ sich in einen Sessel sinken. »Es geht schon wieder. Mac, schenken Sie mir bitte ein Glas Wein ein. Das wird mich wieder aufmuntern. Es ist nur…
Mac, Sie wissen, wie skeptisch ich war, aber ich muss zugeben, dass ich meine Meinung geändert habe. Bonnie Wilson ist keine Betrügerin. Ich bin sicher, dass sie wirklich hellseherische Fähigkeiten hat. Und das bedeutet, dass man ihre Warnung an Nel wegen Peter Lang ernst nehmen muss.«
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N
achdem Gerti fort war, setzte sich Nell wieder an ihren Schreibtisch, um die Kolumne zu überarbeiten, die in der Freitagsausgabe des Journal erscheinen sollte. Der Artikel behandelte den Umstand, dass der Wahlkampf um das Präsidentenamt in den Vereinigten Staaten zunehmend länger dauerte und immer erbitterter geführt wurde. In ihrer nächsten –
und wenn alles nach Plan lief, letzten – Kolumne wollte sie sich von ihren Lesern mit den Worten verabschieden, sie beabsichtige, sich nun selbst ins Wahlkampfgetümmel zu stürzen und für den ehemaligen Sitz ihres Großvaters im Kongress zu kandidieren.
Ich habe mich bereits vor Wochen entschieden, dachte Nel , während sie ihren Text korrigierte. Ermutigt von Mac, hatte sie schon immer gewusst, dass sie in die Politik gehen wollte. Doch sie hatte sich zu lange von ihren Ängsten und Befürchtungen bremsen lassen.
Hat Adam mir diese Zweifel eingeimpft?, fragte sie sich. Sie saß in ihrem Arbeitszimmer und erinnerte sich an die unzähligen Diskussionen über ihre mögliche Kandidatur. Ich begreife einfach nicht, warum er seine Meinung geändert hat, überlegte sie weiter.
Als wir vor drei Jahren heirateten, war er ganz begeistert davon, dass ich mich um Macs Sitz bewerben wollte. Doch dann ist seine Haltung nicht nur skeptisch, sondern regelrecht ablehnend geworden. Weshalb dieser drastische Stimmungswandel?
Sie musste sich eingestehen, dass sie diese bohrende Frage seit Adams Tod noch mehr beschäftigte. Hatte es in seinem Leben dunkle Punkte gegeben, die ihn das Licht der Öffentlichkeit scheuen ließen? Sie stand auf, lief unruhig durch die Wohnung und blieb vor den Bücherregalen stehen, die im Wohnzimmer rings um den Kamin angebracht waren. Adam hatte die Angewohntheit gehabt, ein Buch, das er noch nicht kannte, aus dem Regal zu nehmen, es kurz durchzublättern, und es dann willkürlich irgendwohin zurückzustellen. Nell las die Buchtitel und räumte die Bücher um, bis ihre Lieblingswerke in Reichweite ihres gemütlichen Lesesessels standen.
Ich saß in diesem Sessel und schmökerte in einem Roman, als er mich das erste Mal anrief, kam ihr in den Sinn. Ich war ein wenig traurig, weil ich lange nichts von ihm gehört hatte. Wir hatten uns auf einer Cocktailparty kennen gelernt, und es hat sofort gefunkt. Aber zwei Wochen später wartete ich immer noch auf seinen Anruf. Ich war enttäuscht.
Gerade war ich von Sue Leones Hochzeit in Georgetown zurückgekommen. Die meisten in unserer alten Clique waren schon verheiratet und tauschten Babyfotos aus. Ich sehnte mich sehr nach einer festen Beziehung. Gerti und ich witzelten darüber, und sie sagte, bei mir melde sich wahrscheinlich der
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