Vergiss mein nicht
gegen die Wand zu lehnen. Dann drehte er sich um und sagte zu ihr: » Ab heute übernehme ich hier das Kommando, mein Kind.«
» Nichts von dem hier werde ich tun«, sagte sie und schleuderte ihm die Liste entgegen.
» Das werden wir ja sehen«, widersprach er und fing das Blatt Papier auf, bevor es auf dem Fußboden landete. » Du wirst verdammt nochmal jeden Punkt erfüllen, und zwar tagtäglich, oder ich werde mich mal mit deinem Boss unterhalten. Was hältst du davon?«
» Droh mir ja nicht«, warnte sie und folgte ihm wieder ins Schlafzimmer zurück.
» Wenn du möchtest, nimm’s als Drohung«, sagte Hank. Er riss eine ihrer Kommodenschubladen heraus. Er kramte in ihrer Unterwäsche, schloss die Schublade mit einem kräftigen Stoß und öffnete die nächste.
» Was machst du da?«
» Hier«, sagte er und zog ein paar Laufshorts und ein T-Shirt hervor. » Zieh das hier an. In fünf Minuten bist du unten!«
Lena sah ihn an und bemerkte jetzt erst, dass Hank nicht wie gewöhnlich sein schreiend buntes Hawaiihemd und Jeans trug. Stattdessen hatte er ein weißes T-Shirt mit einer Bierreklame an und dazu ein Paar Shorts, die so neu waren, dass immer noch zu erkennen war, wie sie gefaltet in ihrer Verpackung gelegen hatten. Seine Füße steckten in nagelneuen Turnschuhen, und er hatte weiße Socken bis fast unters Knie hochgezogen. Seine Beine waren so käsig, dass sie mehrmals hinschauen musste, um zu sehen, wo die Beine aufhörten und die Socken anfingen.
» Unten? Wieso?«, fragte sie und verschränkte aufmüpfig die Arme vor der Brust.
» Wir gehen laufen?«
» Du willst laufen? Mit mir?«, fragte sie ungläubig. Hank war ungefähr so fit wie ein Greis im Rollstuhl. Normalerweise schaffte er es kaum bis zum Briefkasten.
» In fünf Minuten«, sagte er und verließ das Zimmer.
» Mistkerl«, schäumte Lena. Sie überlegte, ob sie hinterhergehen sollte oder nicht. Sie kochte vor Wut, aber sie zog die Hosen aus und die Shorts an.
» Verfluchtes Arschloch«, murrte sie, als sie das T-Shirt überstreifte. Ihr blieb keine andere Wahl, und gerade das machte sie so stinksauer. Wenn Hank Jeffrey auch nur die Hälfte dessen erzählte, was er über ihr Verhalten wusste, würde der sie auf der Stelle mit einem Tritt in den Hintern aus ihrem Job befördern.
Lena genehmigte sich einen Blick auf die Liste. Sie fing an mit » täglich körperliche Bewegung« und endete bei » normale Mahlzeiten: Frühstück, Mittagessen, Abendessen«.
Irgendwo ganz tief aus ihrem Innern holte sie jeden Fluch, jedes Schimpfwort, jeden Ausruf des Zorns hervor, den sie in ihren zehn Jahren als Cop gehört hatte, und schleuderte sie allesamt in Richtung Hank. Sie schloss mit » …beschissenes Arschloch«, nahm ihre Turnschuhe und ging nach unten.
Lena saß in Jeffreys Büro und starrte auf die Wanduhr. Er war bereits zehn Minuten zu spät, was, solange sie zurückdenken konnte, noch nie vorgekommen war. Aber eigentlich hätte sie über seine Verspätung froh sein müssen, denn so konnte sie sich ein wenig von dem morgendlichen Lauf mit Hank erholen. Er war ein zäher alter Mann und hatte sie schon nach dem ersten Schritt vor die Haustür abgehängt. Lena gestand sich ein, dass sie die verbissene Zielstrebigkeit von ihrem Onkel haben musste, denn er schien ihr in einem sehr zu gleichen: Hatte er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, konnte ihn nichts mehr davon abhalten. Sogar wenn Lena zurückfiel, sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden gleich platzen, wenn ihre Muskeln höllisch schmerzten, dann war er einfach auf der Stelle gejoggt und hatte, die Lippen fest aufeinandergepresst, darauf gewartet, dass sie ihre Schwäche überwand und wieder aufholte.
» Hi«, sagte Jeffrey, als er ins Büro gehastet kam. Die Krawatte hing lose um seinen Hals, seine Jacke trug er über dem Arm.
» Hi«, sagte Lena und stand auf.
Er bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. » Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte er. » Verkehr.«
» Wo das denn?«, fragte Lena, denn Verkehr gab es nur in der Umgebung der Schule, und das auch nur zu Stoßzeiten. Jeffrey schwieg. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und knöpfte den Hemdkragen mit einer Hand zu. Lena hätte schwören können, ein rotes Mal an seinem Hals gesehen zu haben.
Sie fragte: » Noch keine Spur von Lacey?«
» Nein.« Dabei band er sich die Krawatte. » Auf dem Weg hierher habe ich mit Dave Fine gesprochen. Er hat die Aufzeichnungen von seinen Sitzungen mit Mark
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